Die Bayerische „Räterepublik

Wir veröffentlichen hier das Kapitel Die Bayerische „Räterepublik“ aus der Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“. Die gesamte Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Die Bayerische „Räterepublik“

In Bayern führte am 7. November 1918 eine Münchener Antikriegsdemonstration unter der Führung des pazifistischen USPD-Politikers Kurt Eisner zum Sturz der Monarchie. Die meisten Soldaten wurden auch in München von der Novemberrevolution mitgerissen. In der Nacht bildete sich ein ArbeiterInnen- und Soldatenrat. Dieser ernannte Eisner zum provisorischen Ministerpräsidenten von Bayern. Eisner gehörte dem rechten Flügel der USPD an und war nicht mehr als ein Linksdemokrat. Er wollte das Rätesystem in die parlamentarische Demokratie integrieren. Damit stand er zwischen Revolution und Konterrevolution. Die Konterrevolution wollte das Rätesystem und die mehr oder weniger revolutionären Kräfte strebten die Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie zugunsten eines reinen Rätesystems an. In München gehörten zu den subjektiv revolutionären Kräften die KPD und die kommunistischen AnarchistInnen um Kurt Landauer und Erich Mühsam. Der Letztere hatte damals noch – so wie fast alle RevolutionärInnen – Illusionen in den staatskapitalistischen Bolschewismus und arbeitete, ohne Mitglied zu werden, eng mit der Münchener KPD zusammen. Der kommunistische Anarchismus schuf sich in München durch den Revolutionären Arbeiterrat (RAR) eine eigene Organisation.
Die Konterrevolution stellte in Bayern wie im Deutschen Reich ein Block aus demokratischen und nachmonarchistisch-vorfaschistischen Kräften dar. Hauptkraft des demokratischen Flügels der bayerischen Konterrevolution war die MSPD unter Führung von Erhard Auer, die zusammen mit der USPD unter Eisner eine gemeinsame provisorische Regierung bildete. Wie wir weiter oben schon schrieben, gehörte der rechte Flügel der USPD – einschließlich Kurt Eisners – zum inkonsequenten Schwanz der demokratischen Konterrevolution. Er war für ein parlamentarisches System, in welches das Rätesystem integriert werden sollte. Doch die MSPD wollte als konsequentester Ausdruck der Konterrevolution das Rätesystem vernichten, was auch dessen innere Zersetzung durch MSPD-Räte beinhaltete. Durch möglichst rasche Landtagswahlen sollte in Bayern die reaktionäre Demokratie stabilisiert und dem Rätesystem der Todesstoß versetzt werden. Schließlich einigten sich USPD und MSPD auf den 13. Januar 1919 als Wahltermin für den bayerischen Landtag.
Diesem Sieg der demokratischen Konterrevolution standen das Proletariat und die ArbeiterInnen- und Soldatenräte relativ hilflos gegenüber – aufgrund der eigenen demokratischen Illusionen. Der in München tagende Zentralrat als oberste Instanz des bayerischen Rätesystems hatte kaum eigene Konturen und war auch formal dem bayerischen Innenministerium unterstellt. Es bestanden also im damaligen Bayern beste Voraussetzungen für eine demokratische Zerschlagung des Rätesystems. Doch das mörderische Vorpreschen des ultrafanatischen nachmonarchistisch-vorfaschistischen Flügels der Konterrevolution gab auch den subjektiv revolutionären Kräften neuen Auftrieb.
Doch erzählen wir die Geschichte der Reihe nach. Die Wahlen vom 13. Januar 1919 endeten mit einem Sieg der Bayerischen Volkspartei, gefolgt von der MSPD. Das schwache Abschneiden der USPD mit 3,5 Prozent gab der politischen Hausmacht von Eisner den Todesstoß. Doch dem nachmonarchistisch-vorfaschistischen Flügel der Konterrevolution reichte der demokratische symbolische Todschlag von Eisner nicht aus. Auf dem Weg zum Landtag wurde Eisner am 21. Februar vom Grafen Arco Valley ermordet. Dieser Mörder stand der deutsch-völkischen Thule-Gesellschaft nahe. Lindner, ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats hielt MSPD-Chef Auer fälschlicherweise für den Auftraggeber für den Mord an Eisner, stürmte in den Landtag und schoss auf den mehrheitssozialdemokratischen Konterrevolutionär. Nach diesen Schüssen verließen die DemokratInnen fluchtartig ihren Tummelplatz, den Landtag. Das individualterroristische Aufeinanderprallen der konterrevolutionären und revolutionären Kräfte hatte den Parlamentarismus handlungsunfähig gemacht. Dieses Machtvakuum konnte wegen der mangelnden praktisch-geistigen Reife vom Proletariat in Bayern nicht genutzt werden, um sich selbst revolutionär aufzuheben.
So wurde das Machtvakuum vom nichtrevolutionären Zentralrat genutzt. Er berief einen Kongress der ArbeiterInnen-, BäuerInnen- und Soldatenräte ein. Auf diesem Kongress wurde viel geredet, aber nicht revolutionär gehandelt. Mühsam trat auf diesem Kongress für ein reines Rätesystem ein, doch die Mehrheit dieser von einem Teil der MSPD, USPD und des Bayerischen Bauernbundes dominierten Versammlung stand auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie, in welche die Räte integriert werden sollten. Am 18. März 1919 wurde schließlich eine neue bayerische konterrevolutionäre Regierung aus MSPD und USPD unter dem Mehrheitssozialdemokraten Johannes Hoffmann gebildet. Das Proletariat sollte von der neuen Regierung mit der sattsam bekannten Demagogie der „Sozialisierung“ abgespeist werden.
Doch inzwischen wurde am 21. März im benachbarten Ungarn durch eine vorübergehende staatskapitalistische Wende der dortigen Sozialdemokratie eine so genannte „Räterepublik“ gegründet. Die ungarische Sozialdemokratie sah sich außerstande auf privatkapitalistisch-demokratische Weise weiter die Radikalisierung des dortigen Proletariats zu blockieren. Also verschmolz sie mit der „Kommunistischen“ Partei Ungarns und schuf ein Regime, das von Anfang an noch radikaler staatskapitalistisch war als das sowjetrussische unter Lenin/Trotzki (siehe dazu in dieser Broschüre das Kapitel Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 1945 und: Nelke, Klassenkämpfe in Ungarn (1918-1989), a.a.O., S. 11-16).
Illusionen in diese Ungarische „Räterepublik“ radikalisierte auch das Proletariat im benachbarten Bayern. Teile der bayerischen MSPD und die USPD hielten nun die Bildung einer „Räterepublik“ für eine gestaltbare Form von Parteipolitik. So rief dann der von den beiden sozialdemokratischen Parteien dominierte Zentralrat am 7. April 1919 eine Räterepublik aus. Verwirrte AnarchistInnen trugen den neuesten Schwenk sozialdemokratischer Parteipolitik in Bayern mit. Zu ihnen gehörte auch der subjektiv ehrliche – aber auch in wichtigen Fragen sehr verwirrte – Erich Mühsam. Er hatte damals große Illusionen in die Ungarische „Räterepublik“ und traute so eine von ihm verklärte Wende der dortigen Sozialdemokratie auch der in Bayern zu. Die Erfahrungen der 1. Bayerischen „Räterepublik“ sollten ihn eines Besseren belehren. In dieser ersten „Räterepublik“ waren führend der Dichter Erst Toller (USPD), der Schriftsteller Ernst Niekisch (MSPD) und die beiden anarchistischen Schriftsteller Landauer und Mühsam aktiv. Der hohe Anteil von Intellektuellen in dieser „Räterepublik“ erklärt dann auch das Übermaß an Phrasen, mit denen sie sich selbst berauschten. Am 7. April wurde die „Räterepublik“ ebenfalls in den bayerischen Städten Ansbach, Passau, Regensburg und Würzburg ausgerufen, am 8. April folgten unter anderem die Orte Hof, Rosenheim und Schweinfurt. Der gebildeten Regierung in München gehörten unter anderen die USPD-Politiker August Hagemeister, Franz Lipp sowie Soldmann, von der MSPD Otto Neurath – der zuvor in der „normalen“ bürgerlichen Regierung für die Produktion der Sozialisierungsdemagogie zuständig war – an. Der Bayerische Bauernbund war durch Konrad Kübler und Johann Wurzelhofer vertreten, während Landauer und Silvio Gesell (über dessen Theorien siehe das Kapitel Stärken und Schwächen der Rätebewegung von 1918/1919) den anarchistischen Schwanz dieser KleinbürgerInnen-Republik bildeten.
Mühsam versuchte vergeblich die KPD zur Mitarbeit in dieser „Räterepublik“ zu bewegen. Doch die KPD-Zentralen von Deutschland und Bayern lehnten das neue USPD/MSPD-Regime als „Scheinräterepublik“ ab. Der Begriff „Scheinräterepublik“ ist jedoch etwas Unsinniges. Die Republik ist eine demokratische Staatsform des sozialökonomischen Kapitalverhältnisses. Will sich das Proletariat vom Kapitalverhältnis sozial befreien, dann darf sie nicht BerufspolitikerInnen erlauben, es weiter unter dem Firmenschild einer „Räterepublik“ zu regieren. Dann muss es sich selbst revolutionär aufheben, das heißt den Staat zerschlagen und die Warenproduktion aufheben. Die realen Rätesysteme während der europäischen Nachkriegskrise stellten sich dieses Ziel nicht. Sie wurden von sozialdemokratischen und partei-„kommunistischen“ BerufspolitikerInnen dominiert, welche die Rätesysteme als – wenn auch stark deformierte – Organe des selbstorganisierten proletarischen Klassenkampfes nur von innen zersetzen konnten. Es gibt einen Unterschied zwischen privatkapitalistischen und staatskapitalistischen Republiken, aber keinen zwischen „Räterepubliken“ und „Scheinräterepubliken“. Die Ungarische „Räterepublik“ war radikal staatskapitalistisch, die sozialdemokratisch-anarchistische „Räterepublik“ in Bayern tat nichts Konkretes, um die Macht des Privatkapitals zu brechen. Das war auch der Grund, warum die Leitung der KPD sie ablehnte, wenn auch Teile der Parteibasis sie unterstützten. Auch eine wirkliche sozialrevolutionäre, nichtparteiengebundene, konsequent antipolitische und antistaatskapitalistische sozialrevolutionäre Strömung, die es damals noch nicht gab, hätte sich selbstverständlich nicht an dieser „Räterepublik“ beteiligt.
Auch der Teil der MSPD, der in der „Räterepublik“ aktiv war, dachte also nicht daran, konsequent gegen das Privatkapital vorzugehen, die mehrheitssozialdemokratisch dominierte alte Regierung unter Johannes Hoffmann begab sich nach Bamberg und bekämpfte sogar diese sehr inkonsequente „Räterepublik“ mit höchster konterrevolutionärer Konsequenz. Mehrheitssozialdemokratisches Militär putschte in München in der Nacht vom 12. zum 13. April gegen die „Räterepublik“ spielenden Kleinbürger. Doch die Putschisten trafen auf den militanten Widerstand der ArbeiterInnenklasse und der KPD. Die „Räterepublik“ hatte vorher so gut wie nichts gegen die drohende Konterrevolution unternommen. Nun wurde sie zwischen den konterrevolutionären und subjektiv revolutionären Kräften zerschlagen. Nachdem das klassenkämpferische Proletariat mit dem konterrevolutionären Putsch aufgeräumt hatte, dachte sie nicht daran, diese erbärmlichen KleinbürgerInnen weiterhin „Räterepublik“ spielen zu lassen. Eine von der KPD dominierte Versammlung der Betriebs- und Kasernenräte sprach der bisherigen Räteregierung das Misstrauen aus. Nun wurde eine neue, die zweite „Räterepublik“ gegründet, an der sich die KPD beteiligte.
Diese zweite „Räterepublik“ kämpfte wesentlich konsequenter gegen die privatkapitalistische Konterrevolution als die erste, doch als parteien- und staatsförmiges Politikmodell konnte sie objektiv nicht das Kapitalverhältnis aufheben, die Verstaatlichung der Produktionsmittel war das radikalste, was von ihr zu erwarten gewesen wäre. Damit wäre die „Räterepublik“ in die staatskapitalistische Konterrevolution umgeschlagen. Doch sowohl Bourgeoisie als auch Proletariat waren sozial schon zu stark entwickelt, als dass sie sich einen Staatskapitalismus wie in Russland hätten gefallen lassen. So machte dann die deutsche Bourgeoisie auch mit der Zweiten „Räterepublik“ durch konterrevolutionären Terror Schluss.
Die am 14. April 1919 gegründete zweite „Räterepublik“ entmachtete den alten Zentralrat und ermächtigte einen fünfzehnköpfigen Aktionsausschuss, dem MSPD-, USPD- und KPD-Mitglieder angehörten. Dieser Aktionsausschuss ermächtigte wiederum einen vierköpfigen Vollzugsrat unter der Führung des Kommunisten Eugen Leviné. Dieser Vollzugsrat rief sofort zu einem zehntägigen Generalstreik und der Bewaffnung des Proletariats auf. Durch eine Militärkommission wurde unverzüglich eine Rote Armee unter der Führung des Kommunisten Rudolf Egelhofer aufgebaut. Außerdem wurde eine Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution eingerichtet. Auch organisierte die zweite „Räterepublik“ die „ArbeiterInnenkontrolle“ in den Groß- und Verkehrsbetrieben sowie in den Banken. In Sowjetrussland war eine solche „ArbeiterInnenkontrolle“ die Vorstufe zur Verstaatlichung gewesen. Auch die zweite Bayerische Räterepublik bereitete die Verstaatlichung der Banken vor. Selbstverständlich wäre auch in Bayern der Sieg des Staatskapitalismus – für den es keinerlei objektive und subjektive Voraussetzungen gab – das Ende des Rätesystems als Ausdruck der proletarischen Selbstorganisation im Klassenkampf gewesen. Eine straffe staatsförmige Zentralisierung der Macht war der zweiten „Räterepublik“ schon anzusehen.
Doch die privatkapitalistische Konterrevolution verhinderte erfolgreich die Etablierung eines staatskapitalistischen Regimes in Bayern. Sie verhängte eine Blockade über das Gebiet der „Räterepublik“. Bayern wurde von Noske-Truppen und Freikorps besetzt. Die zentristische Münchener USPD widersetzte sich dem konsequenten Kampf gegen die Konterrevolution und trat für total illusorische Verhandlungen mit der MSPD-Regierung in Bamberg ein. Doch die hatte schon lange nichts mehr zu melden. Bluthund Noske hatte übernommen und erfüllte auch in Bayern konsequent-ultrafanatisch seinen konterrevolutionären Auftrag. Verhandeln mit der Konterrevolution?! Absolut sinnlos! Doch die USPD konnte sich auf einer Betriebsräteversammlung am 27. April gegen den Widerstand der KPD mit ihrer Forderung nach Verhandlungen durchsetzen. Der Aktionsausschuss trat daraufhin zurück und USPD-Politiker Toller als Wortführer der Kapitulanten wurde abermals zum Vorsitzenden gewählt. Das war das politische Ende der zweiten „Räterepublik“.
Doch die Rote Armee blieb weiterhin unter kommunistischer Kontrolle und begann ein Eigenleben zu entwickeln. Sie führte gegen den Willen der neuen politischen „Führung“ den Kampf gegen die Konterrevolution fort. Unsere Vorstellung von der Diktatur des Proletariats beruht auf ArbeiterInnenmilizen, die eindeutig unter Kontrolle der Organe der proletarischen Selbstorganisation stehen müssen. Doch in Fall Bayerns wollte die Mehrheit der Betriebsräte nicht kämpfen, sondern verhandeln. Dadurch hatte sich die Rote Armee, die weiterhin gegen die Konterrevolution kämpfte, objektiv vom realen Rätesystem gelöst. Im Gegensatz zu kleinbürgerlichen MoralistInnen wollen wir die Tötung von zehn Geiseln – meistens Mitglieder der konterrevolutionären Thule-Gesellschaft – am 30. April 1919 durch die Rote Armee angesichts des konterevolutionären Terrors weder verurteilen noch verteidigen. Nach der Darstellung von Richard Müller plante die Rote Armee auch gegen die neue politische Führung unter Toller zu putschen. (Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland, a.a.O., S. 199.) Wir verteidigen keineswegs die kapitulantenhafte Politik der USPD, aber ein Militärputsch hätte mit der wirklichen sozialen Revolution auch nichts zu tun gehabt.
Doch zu einem solchen Putsch kam es ja auch nicht mehr. Die privatkapitalistische Konterrevolution brach den Widerstand der Roten Armee. Am 1. Mai 1919 drangen die konterrevolutionären Truppen in München ein, das nur noch von einem Teil der Roten Armee verteidigt wurde. Am 4. Mai kapitulierte die letztere nach verzweifeltem Widerstand. Nun begann die blutige Rache der Konterrevolution, die am 6. Mai 1919 auch nicht davor zurückschreckte mit der Räterepublik nicht das Geringste zu tun habende 21 katholische Gesellen zu ermorden. Landauer und Eglhofer wurden von diesen Handlangern der Bourgeoisie am 2. Mai ermordet. Ungefähr 1000 Menschen fielen der triumphierenden Konterrevolution zum Opfer. Levine wurde zum Tode verurteilt und am 6. Juni hingerichtet. Über 2200 AktivistInnen des Rätesystems – unter ihnen auch Erich Mühsam – wurden oft jahrelang eingesperrt. Mit dem Triumph der Konterrevolution in Bayern endete die heißeste Phase der revolutionären Nachkriegskrise.

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