Die Novemberrevolution

Wir veröffentlichen hier das Kapitel „Die Novemberrevolution“ aus der Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“. Die gesamte Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ könnt Ihr hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Die Novemberrevolution

Im Herbst 1918 entwickelte sich in Deutschland eine revolutionäre Situation heraus. Die Beherrschten konnten und wollten nicht mehr so leben wie bisher und die Herrschenden konnten nicht mehr so regieren wie bisher. Das revolutionäre Signal kam dabei Ende Oktober von den Kieler Matrosen. Sie weigerten sich für den größenwahnsinnigen deutschen Imperialismus sinnlos verheizen zu lassen und noch einmal zu einer Seeschlacht auszufahren
Die Kieler Matrosen machten mit dem imperialistischen Krieg Schluss und traten in den Klassenkrieg. Sie wurden zum Beispiel für die Soldaten und ArbeiterInnen im ganzen Kaiserreich. Als der deutsche Imperialismus repressiv gegen die Kieler Matrosen vorging und viele von ihnen inhaftierte, begann die Revolution. Tausende ArbeiterInnen und ihre Familien demonstrierten am 3. November 1918 für die Freilassung der Matrosen. Als ein reaktionärer Trupp unter einem kaisertreuen Offizier in die Menge schoss, gab es zahlreiche Tote und Verwundete – und den revolutionären Gegenschlag des Kieler Proletariats. Die Matrosen schossen endlich zurück!
Die Revolution war in Kiel entfesselt. Der sich spontan nach den Erfordernissen der Situation und damit auch sehr bewusst bildende Soldatenrat hatte am 4. November bereits 40.000 bewaffnete Soldaten hinter sich. Die revolutionären Soldaten verbrüderten sich mit den ArbeiterInnen. Noch am Abend des 4. November beschlossen die Vertrauensleute der Kieler Großbetriebe den Generalstreik, der am nächsten Tag seine ganze Macht entfaltete. Die Werften wurden von den Matrosen besetzt.
Der Beginn der Revolution in Kiel traf die Herrschenden – die JunkerInnen, die Bourgeoisie, das BerufspolitikerInnentum, einschließlich des sozialdemokratischen, und die Staatsbürokratie – hart. Vor dem Aufstand der Kieler Matrosen hatten sie versucht durch Reformen von oben die Revolution von unten zu verhindern. So wurde am 3. Oktober 1918 eine neue Regierung unter dem Prinzen Max von Baden gebildet. Dieser Regierung gehörten je zwei Vertreter der „Parteien der Reichstagsmehrheit“ an – SPD, Zentrum und Fortschrittspartei. Das sozialdemokratische kleinbürgerliche BerufspolitikerInnentum hatte sein wichtigstes sozialpsychologisches Bedürfnis, das ganz genährt von seiner sozialökonomischen Basis war, nämlich von der Bourgeoisie anerkannt und dadurch großbürgerlich zu werden, erreicht. Die Reformen strebten also nach einer noch intensiveren Einbindung der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Außerdem sollte das Kaiserreich noch stärker parlamentarisiert und demokratisiert werden. Doch die Revolution von unten paralysierte die bisherige Strategie der bürgerlichen Sozialreaktion. Sie musste im Kampf mit der Revolution modernisiert werden.
Die Revolution weitete sich von Kiel über ganz Deutschland aus. Überall bildeten sich ArbeiterInnen- und Soldatenräte und übernahmen bzw. kontrollierten die lokale Macht. Am 5. und 6. November überspülte die Welle der Revolution Norddeutschland: Hamburg, Lübeck, Neumünster und Bremen. Und sie breitete sich am 7. November auf Wilhelmshaven, Bremerhaven, Rendsburg, Schleswig, Cuxhaven, Brunsbüttel, Schwerin, Rostock, Oldenburg, Lüneburg und Hannover aus. Auch Süddeutschland wurde von der revolutionären Welle nicht verschont. Am 8. November erreichte sie unter anderem Köln, Düsseldorf, Dresden, Leipzig, Frankfurt und München.
Einer der klügsten und hinterhältigsten KonterrevolutionärInnen, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, erkannte bereits am 7. November: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde.“ (Zitiert nach Sozialistische Alternative Voran (SAV), Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Köln 1994, S. 10.) Damit war die Umstrukturierung der konterrevolutionären Strategie klar benannt: Eine weitere Demokratisierung und Parlamentarisierung des Kaiserreiches konnte die Revolution nicht mehr eindämmen. So wurde die demokratische Republik zur neuen Staatsform gegen das klassenkämpferische Proletariat.
Am 8. November erreichte die Revolution auch Berlin. Doch bevor wir den Verlauf der Novemberrevolution in Berlin ausführlicher beschreiben werden, wollen wir uns die dilettantischen Aufstandsvorbereitungen der Revolutionären Obleute, des Spartakusbundes und der USPD näher ansehen. Das tun wir nicht um uns über diese subjektiv revolutionären Kräfte lustig zu machen. Das liegt uns völlig fern. Nein, wir wollen durch die kritische Schilderung dieser „Vorbereitungen“ unsere Analyse belegen, dass in Deutschland die bolschewistische Parteitaktik, eine objektive revolutionäre Situation für die Eroberung der politischen Macht durch eine Partei bzw. durch eine Koalition von mehreren Parteien unmöglich war. In Russland war die politische Machteroberung der bolschewistischen Partei im Oktober 1917 der Höhepunkt der antifeudal-antiprivatkapitalistischen Revolution und gleichzeitig der Beginn der staatskapitalistischen Konterrevolution. Die bürgerliche Parteiorganisation der Bolschewiki war ein politischer Ausdruck der Kapitalvermehrung und die Eroberung der politischen Macht dieser Partei konnte also nicht den Kapitalismus revolutionär aufheben, sondern nur die Kapitalvermehrung durch eine ursprüngliche staatskapitalistische Industrialisierung enorm beschleunigen. Nötig – im Sinne der Kapitalvermehrung – und möglich war die staatskapitalistische Parteidiktatur der Bolschewiki deshalb, weil die beiden Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft, Bourgeoisie und Proletariat, im agrarischen Russland sozial noch zu schwach waren, um den weiteren Verlauf der Geschichte zu bestimmen.
Im Industriestaat Deutschland war eine solche staatskapitalistische Übernahme der politischen Macht wegen der sozialen Stärke von Bourgeoisie und Proletariat objektiv unmöglich. Der bolschewistische Staatskapitalismus richtete sich gegen Bourgeoisie und Proletariat. Auch der radikale Parteimarxismus in Deutschland war zu dieser Zeit der revolutionären Nachkriegskrise objektiv stark staatskapitalistisch geprägt, und der parteienfeindliche Rätekommunismus entwickelte sich ja auch erst in dieser Periode (siehe zu den subjektiven Bedingungen der Revolution die Kapitel Die Formierung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte, Stärken und Schwächen der Rätebewegung 1918/19 und Die Herausbildung der FAUD(S), des Unionismus und der KAPD). Die radikalmarxistische Subjektivität in Deutschland unterschied sich also vom gestellten Ziel der Eroberung der politischen Macht nicht wesentlich von der der Bolschewiki in Russland, allerdings konnte sie sich aufgrund der vollständig anderen objektiven Voraussetzungen nicht durchsetzen. Die Eroberung der Staatsmacht konnte objektiv nur reaktionär sein. Revolutionär ist nur die Zerschlagung des Staates bei der Überwindung der Warenproduktion – also die Selbstaufhebung des Proletariats. Alle radikalmarxistischen Versuche der Eroberung der politischen Macht zwischen 1918 und 1923 scheiterten in Deutschland an der sozialen Macht der Bourgeoisie. Selbst wenn es einer marxistischen Partei oder einer Koalition aus mehreren solcher Parteien gelungen wäre, die politische Macht zu erobern – es wäre objektiv eine Machteroberung gegen das Proletariat gewesen. Und das Proletariat in Deutschland hätte sich wie das russische gegen den Staatskapitalismus gewehrt – und ein „Kronstadt“ in diesem Lande hätte den Sieg der sozialen Revolution bedeutet, wenn vielleicht auch nur vorübergehend. Fazit: Wenn die Versuche der politischen Machteroberung der radikalmarxistischen Kräfte im Vergleich mit der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 auch technisch sehr dilettantisch wirken, dann in erster Linie deshalb, weil sie sich subjektiv ein Ziel stellten, was sie objektiv gar nicht erreichen konnten.
Bernd Langer schrieb über die Aufstandsvorbereitungen der Revolutionären Obleute, der USPD und des Spartakusbundes: „Unter dem Titel ,Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates‘ kommt es ab Oktober 1918 zu regelmäßigen, illegalen Treffen von Delegierten aller drei Fraktionen. Das Gremium dient der konkreten Aufstandsvorbereitung und zeigt, dass die radikale Linke nach den harten Rückschlagen im Anschluss an den Januarstreik wieder aktionsfähig geworden ist. (Anmerkung von Nelke: siehe zu den Januarstreiks 1918 kurz in dieser Broschüre das Kapitel Die Weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 1945 und ausführlicher im Kapitel Massenstreiks gegen den Krieg in Deutschland (1914-1918) in unserer Schrift Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 63-71. Die Ansicht von Bernd Langer, dass die „radikale Linke“ wieder aktionsfähig geworden wäre, teilen wir allerdings ganz und gar nicht.) Doch bei Charakteren vom Kaliber Liebknechts kommt es in taktischen Fragen zu starken Differenzen.
Ziel der Obleute ist ein finaler Schlag gegen die Regierung. Wie aus dem Nichts und völlig überraschend soll der Umsturz herbeigeführt werden. (Anmerkung von Nelke: Wir sehen hier deutlich die technische und strategisch-taktische Verwandtschaft zum Staatsstreich der Bolschewiki im Oktober 1917.) Nach wie vor arbeiten die Obleute verdeckt und betreiben weder Propaganda noch Theoriearbeit – sie sind und bleiben Männer der Praxis und sind in der Lage, aus dem Stand Hunderttausende in den Streik zu führen. Was den Obleuten fehlt, ist ein eigenes politisches Konzept. Deshalb müssen sie sich trotz ihrer Autonomie in der Aktion ideologisch beim Spartakus und der USPD anlehnen.
Karl Liebknecht hingegen ist Parteipolitiker. Zu seinen Methoden gehört die Öffentlichkeitsarbeit. Ununterbrochen publiziert die Spartakusgruppe Flugblätter, Zeitungen und Plakate, ruft zu Demonstrationen und Versammlungen auf und will die Arbeiterschaft in ständige Aktionsbereitschaft versetzen, mit dem Ziel, den Elan der Massen zur Revolte zu steigern. Als ,Revolutionsgymnastik‘ verballhornen das die Obleute.
Allerdings bleibt der Einfluss der Spartakusgruppe namentlich in den Betrieben gering, weite Teile der Arbeiterschaft sind nicht bereit, sich für revolutionäre Maximalforderungen in die Bresche zu werfen. ,In jeder Familie hatte sich im Laufe der Zeit dieses und jenes angesammelt, einst sauer erworben, dessen Verlust schmerzlich empfunden wurde. Ein Teil der Arbeiter hatte sich nicht nur kleinbürgerlich, sondern gut bürgerlich eingerichtet‘, charakterisiert Richard Müller die vorherrschende Mentalität. (Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik, Malik-Verlag, Wien 1924/1925, S. 167. Anmerkung von Nelke: Das starke kleinbürgerliche Tendenzen im Proletariat existieren, dass brauchen wir uns nicht von den IdeologInnen des kleinbürgerlichen Radikalismus wie Richard Müller und Bernd Langer erklären zu lassen. Allerdings schwingt bei kleinbürgerlichen IdeologInnen auch immer ein gewisses Maß an Verachtung gegenüber dem Proletariat mit, wenn sie dessen ohne Zweifel existierende Kleinbürgerlichkeit analysieren. Dabei sollten sich diese Leute lieber an die eigene Nase fassen. Außerdem führte gerade der Erste Weltkrieg zu einer verschärften Verelendung des Proletariats und zu einer wachsenden Proletarisierung des lohnabhängigen KleinbürgerInnentums. Dass Karl Liebknecht Parteipolitiker war, ist leider nur zu wahr. Aber er war wesentlich konsequenter als die Revolutionären Obleute und deren führender Kopf, Richard Müller. Dessen schwankenden und opportunistischen Kurs werden wir noch oft in dieser Broschüre kritisieren.)
Trotzdem drängt Karl Liebknecht ungeduldig auf den Aufstand. Der Termin wird immer mehr verschoben, begründet mit der in den Augen der Obleute mangelhaften Bewaffnung, die für die kommende Auseinandersetzung als absolut notwendig erachtet wird.
Am Vormittag des 2. November trifft sich in einer Neuköllner Kneipe der Vollzugsausschuss zur entscheidenden Beratung. An Hand eines Berliner Stadtplanes wird ein strategisches Konzept entwickelt. Unter den Anwesenden befindet sich Pionieroberleutnant Walz, der für militärische Fragen zur Verfügung steht. Außerdem will Walz mit Hilfe seiner Kompanie andere Truppenteile auf die Seite der Revolution bringen bzw. dafür sorgen, dass sie sich neutral verhalten.
Es wird beschlossen, die Aktion am Montag, dem 4. November, auszulösen. Um die Planung bekannt zu machen, gibt es Abend des 2. Novembers eine Sitzung der Revolutionären Obleute. In der anschließenden Diskussion zeigen sich die meisten Delegierten wankelmütig. In einer bewaffneten Konfrontation wird man unterliegen und zudem kommen Bedenken auf, ob es tatsächlich gelingen wird, die Arbeiterinnen und Arbeiter mitzuziehen. Schließlich gibt es eine Abstimmung: mit 22 zu 19 Stimmen wird der Aufstandstermin um eine Woche, auf Montag den 11. November, verschoben. (Wilhelm) Pieck, Liebknecht und das Spartakusmitglied Meyer, die auf der Versammlung anwesend sind, bringen den Antrag ein, am 2. November wenigstens den Generalstreik auszurufen. Ganze zwei Obleute stimmen für diesen Vorschlag. Man vertagt sich auf den 6. November.
Am 3. November trifft sich der Vollzugsausschuss in einem Fabrikraum in der Köpenicker Straße, der während des Aufstandes als geheimer Tagungsort dienen soll. Zu Gast ist ein Matrose aus Kiel, der berichtet, dass die Besatzungen mehrerer Schiffe die Befehle verweigern. Die Mannschaften möchten Auskunft, was jetzt weiter zu geschehen habe. Übereinstimmend empfiehlt der Ausschuss, man solle rote Fahnen hissen und den sofortigen Waffenstillstand fordern. Wie der Matrose auf diese Auskunft reagiert hat, ist nicht überliefert.
Am 4. November treffen nähere Nachrichten über die Ereignisse an den Küsten in Berlin ein. In Kiel ist es zu Aufständen gekommen und mittlerweile ein Matrosenrat gebildet worden. Außerdem wird bekannt, dass Oberleutnant Walz verhaftet ist, ein Feldwebel hat ihn verraten. Damit steht die Aufstandsplanung auf dem Spiel.
Pieck und Liebknecht insistieren bei einer Versammlung der Obleute am gleichen Abend, den Aufstand auf den 8. oder spätestens 9. November vorzuverlegen. Doch die Obleute winken ab. Diese Termine seien Lohnzahlungstage und es wäre deshalb schlecht möglich, die Belegschaften auf die Straße zu bringen. Am 6. November wird die Sowjetbotschaft in Berlin wegen der Unterstützung der revolutionären Bewegung von der Reichsregierung geschlossen, da der Verdacht besteht, dass von hier Gelder für den Kauf von Waffen geflossen sind. Liebknecht versucht daraufhin erneut, einen früheren Aufstandstermin durchzusetzen. Vergeblich, es bleibt beim 11. November.“ (Bernd Langer, Revolution und bewaffnete Aufstände in Deutschland, AktivDruck & Verlag, Göttingen 2009, S. 108-110.)
Doch die spontane Revolution des Proletariats erreichte Berlin schon bevor der geplante „Aufstand“ beginnen konnte, und zwar am 8. und 9. November, an den Lohnzahlungstagen! An den Ausführungen von Langer sehen wir deutlich, dass der Spartakusbund die vorwärtstreibende Kraft unter den subjektiv revolutionären Kräften in Berlin gewesen ist – und die Revolutionären Obleute eher schwankten. Mal abgesehen davon, dass die „geplante“ Novemberrevolution nach dem Vorbild der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 nur scheitern konnte… Die wirkliche Novemberrevolution von 1918 entsprach der russischen Februarrevolution von 1917. In beiden Revolutionen wurden durch den spontanen Klassenkampf des Proletariats die Monarchien gestürzt und es entstanden die Organe der proletarischen Selbstorganisation, die ArbeiterInnenräte und als Folge des imperialistischen Krieges auch Soldatenräte. Und in beiden Fällen wurden die ArbeiterInnenräte leider von den BerufspolitikerInnen der „ArbeiterInnenparteien“ zuerst beherrscht und dann konterrevolutionär vernichtet. In Russland waren die staatskapitalistischen Bolschewiki die Zerstörer der Organe des selbstorganisierten Klassenkampfes, in Deutschland übernahm diese Rolle die privatkapitalistische Sozialdemokratie.
Bevor wir den Verlauf der Novemberrevolution in Berlin weiter untersuchen, möchten wir auf eine Frage antworten, die sich bei der bisherigen Analyse der Ereignisse stellt. Kann eine bewusste revolutionäre Kraft während einer revolutionären Situation im modernen Kapitalismus nur auf die Spontaneität der Massen bauen, wenn eine Orientierung auf die politische Machteroberung nur zu einem neuen – objektiv sozialreaktionären – Staat führen kann und eine solche Strategie im Gegensatz zu einem Agrarstaat auch notwendig scheitern muss? Nein, bewusste RevolutionärInnen können in einer objektiv revolutionären Situation im modernen Kapitalismus eine Menge tun, um die subjektiven Bedingungen mit zu schaffen, damit aus einer revolutionären Situation eine siegreiche soziale Revolution wird. Das was die Revolutionären Obleute im Ansatz waren, nämlich eine Vernetzung von BetriebsaktivistInnen, müssen auch proletarische RevolutionärInnen versuchen bereits vor der Revolution aufzubauen – bei Überwindung der Gewerkschaftsorganisation! Vergessen wir nicht, dass die Revolutionären Obleute ehrenamtliche GewerkschaftsfunktionärInnen waren und heutige RevolutionärInnen weder ehren- noch hauptamtliche Funktionen in diesen sozialreformistischen Organisationen übernehmen dürfen.
Selbstverständlich hätten sozialrevolutionäre Gruppen mit den heutigen Erfahrungen sich auch ganz auf die Aktivität und Kampfbereitschaft der radikalsten und am härtesten ausgebeuteten Schichten des Proletariats orientiert – ohne in Aktivismus zu fallen, denn durch diesen werden viel zu viel ProletarierInnen verheizt. Genauso selbstverständlich hätten SozialrevolutionärInnen durch eine inneraktive Kommunikation mit ihren KollegInnen und Klassengeschwistern versucht, deren Bewusstsein und Sein weiter zu radikalisieren. Wobei heutige SozialrevolutionärInnen natürlich wissen, dass die eigene Klassenkampfpraxis des Proletariats auch entscheidend für die Radikalisierung ihres Bewusstseins ist. Die praktische Radikalisierung des Proletariats durch Klassenkampf schafft das massenhafte Bedürfnis nach revolutionärer Theorie. Dank der Erfahrungen der revolutionären Nachkriegskrise können wir heute radikaler sein als der damalige Spartakusbund. Wir können die politische Parteiorganisation hinter uns lassen und uns ganz auf die proletarische Selbstorganisation im Klassenkampf konzentrieren.
Die Organe der proletarischen Selbstorganisation während der Novemberrevolution waren die ArbeiterInnenräte. Schauen wir uns deren Entwicklung im Verlauf der Revolution in Berlin genauer an. Am 8. November rief der Vollzugsausschuss der Berliner ArbeiterInnen- und Soldatenräte und der Spartakusbund für den 9. November zum Generalstreik auf. Am Morgen dieses Tages begaben sich dann auch unzählige Soldaten und ProletarierInnen in Massendemonstrationen von den Vorstädten aus in das Zentrum Berlins. Eine gewaltige proletarische Straßenbewegung mit den streikenden ArbeiterInnen als Kern begann sich zu entwickeln. Die meisten Soldaten gingen auf die Seite des Proletariats über. Aber vor der Maikäferkaserne in der Chauseestraße gaben kaisertreue Offiziere den Schießbefehl. Drei ArbeiterInnen wurden von der Sozialreaktion ermordet, darunter auch der Aktivist der proletarischen Jugendbewegung Erich Habersath. Doch Dank der Größe der proletarischen Straßenbewegung konnten die Verluste an Menschenleben gering gehalten werden.
Vorerst… Um die Mehrheit des Proletariats wieder ruhig zu kriegen, setzte die politische Avantgarde der Konterrevolution, die SPD, erst mal auf Staatsumbau und soziale Demagogie. Und damit hatte sie auch Erfolg. Klar, die ArbeiterInnen- und die Soldatenräte beherrschten seit dem Mittag des 9. November 1918 die deutsche Hauptstadt. Die kaiserlichen Offiziere waren größtenteils entwaffnet. Doch sowohl die Mehrzahl der ArbeiterInnen und Soldaten als auch die revolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen besaßen keine klare revolutionäre Perspektive. Das sagen wir ohne jegliche Arroganz. Denn wir können unsere Urteile heute fällen aufgrund der Erfahrungen, die damals erst noch gemacht werden mussten. Um die ArbeiterInnen- und die Soldatenräte wirklich zum Bollwerk der sozialen Revolution zu machen, hätten sie sich selbst das Ziel stellen müssen, den Staat zu zerschlagen und die Warenproduktion zu überwinden. Doch der größte Teil des Proletariats und der Soldaten wurden spontan in den Sog der Revolution hineingezogen. Während der Januarstreiks von 1918 hatten viele ArbeiterInnen für ein Ende des Krieges und eine Demokratisierung des Staates gestreikt. Weitere Ziele fasste auch der größte Teil des Proletariats am 9. November nicht. Nun, beides konnte die Konterrevolution den Massen geben. Der Krieg war sowieso verloren und der Kaiser hatte abgewirtschaftet. Also wurde die parlamentarische Demokratie zur Totengräberin des nur potenziell revolutionären Rätesystems.
So wie die ArbeiterInnen- und Soldatenräte sich nur durch die siegreiche soziale Revolution gegen den Staat hätten behaupten können, so konnte der Staat in veränderter politischer Form nur sein Machtmonopol behalten, wenn er die Räte als Organe der proletarischen Selbstorganisation im Klassenkampf zerstören konnte. Dies geschah in der Praxis durch sozialdemokratische BerufspolitikerInnen, die das Rätesystem von innen deformierten. Das Rätesystem ließ sich dadurch 1918/19 selbst von innen entmachten. Diejenigen Reste des Rätesystems, die sich nicht selbst auflösten, wurden durch eine ultrabrutale Repression zerschlagen. So folgte der halben Novemberrevolution eine ganze Konterrevolution.
Sehen wir uns diese siegreiche Konterrevolution genauer an. Da das Kaiserreich für einen erfolgreichen Klassenkampf von oben nicht mehr zu gebrauchen war, traten am 9. November der Kaiser und der liberale Prinz Max von Baden ab. Zuvor hatte letztere noch den Sozialdemokraten Friedrich Ebert als seinen Nachfolger als Reichspräsidenten ernannt. Dieser bildete sofort ein konterrevolutionäres Kabinett unter dem sehr rrrevolutionär klingenden Namen „Rat der Volksbeauftragten“, welches aus drei SPD- und drei USPD-Vertretern bestand. Der rechte Flügel der USPD ließ sich also – natürlich sehr schwankend und murrend – in die Konterrevolution einbinden, während der linke Flügel der USPD, wozu auch die Revolutionären Obleute gehörten, in Worten für die Revolution, das Rätesystem und die Diktatur des Proletariats eintrat, aber es in der Praxis an der nötigen Konsequenz fehlen ließ. Der orthodoxe Marxismus bezeichnete die gesamte USPD als zentristisch, also zwischen Reformismus und der Revolution schwankend. Nun, wir sehen den rechten Flügel (Kautsky!) dieser Partei eindeutig als konterrevolutionär an, als zentristisch bezeichnen wir nur deren linken Flügel. Unterhalb der Spitze des „Rates der Volksbeauftragten“ blieb der alte Staatsapparat intakt und zum Zuschlagen gegen das klassenkämpferische Proletariat bereit.
So entstand eine Doppelherrschaft. Auf der einen Seite die ArbeiterInnen- und Soldatenräte, die sich stark in betriebliche und kommunale Belange einzumischen begannen, und auf der anderen Seite der nur schwach reformierte Staatsapparat, der durch die Novemberrevolution zwar geschwächt, aber eben nicht zerschlagen wurde. Während die meisten ProletarierInnen und Soldaten nicht für weitergehende Ziele kämpfte und auch die bewussten RevolutionärInnen keine klare Perspektiven besaßen, wusste die Konterrevolution ganz genau, was zu geschehen hatte: die schrittweise Entmachtung der ArbeiterInnen- und Soldatenräte und die Etablierung eines sozialreaktionären parlamentarisch-demokratischen Systems als politischer Herrschaftsform des Privatkapitals.
Am 10. November 1918 wurde von den Revolutionären Obleuten zu einer Versammlung der ArbeiterInnen- und Soldatenräte im Zirkus Busch aufgerufen. Diese Versammlung war von deren EinberuferInnen als Gegengewicht zur konterrevolutionären Ebert-Regierung gedacht, doch die MSPD (das MS steht für Mehrheitssozialdemokratisch) unterwanderte die Soldatenräte, die um einiges rückschrittlicher waren als die ArbeiterInnenräte. Auf dieser Versammlung wurde ein Vollzugsrat der ArbeiterInnen- und Soldatenräte von Groß-Berlin gewählt. Nach den Vorstellungen der USPD sollten dieser Exekutive der Berliner ArbeiterInnen- und Soldatenräte nur USPD- und Spartakus-Mitglieder – darunter Liebknecht, Luxemburg und Pieck – angehören. MSPD-Mitglieder waren nicht vorgesehen. Doch da protestierten die von der Mehrheitssozialdemokratie unterwanderten Soldatenräte. Schließlich wurde ein paritätischer Vollzugsausschuss aus je sieben VertreterInnen von MSPD und USPD gewählt. Damit hatte die konterrevolutionäre MSPD den Vollzugsrat der ArbeiterInnen- und Soldatenräte weitgehend in der Hand.
Richard Müller wurde Vorsitzender des Vollzugsrates der ArbeiterInnen- und Soldatenräte von Großberlin. Müller zeigte durch die Annahme dieser Funktion, dass er kein wirklicher Revolutionär war – und wenn er sich in theoretischen Abhandlungen damals auch noch so sehr gegen die parlamentarische Demokratie und für das Rätesystem als Diktatur des Proletariats aussprach. In der Praxis war er immer wieder zu faulen Kompromissen mit der konterrevolutionären MSPD und dem ebenfalls sozialreaktionären rechten Flügel der USPD bereit. Dass Müller sich einverstanden erklärte einer Instanz vorzustehen, die auf Kollaboration mit dem konterrevolutionären MSPD-Apparat beruhte, zeigt deutlich sein ganzes opportunistisch-zentristisches Wesen.
So wurde der Vollzugsrat mit Richard Müller an der Spitze zum Feigenblatt der konterrevolutionären Ebert-Regierung, dem so genannten „Rat der Volksbeauftragten“. Am 22. November 1918 kam es zu einer folgenden Vereinbarung zwischen dem Vollzugsrat und dem konterrevolutionären „Rat der Volksbeauftragten“:
„Die Revolution hat ein neues Staatsrecht geschaffen. Für die erste Übergangszeit findet der neue Rechtszustand seinen Ausdruck in nachstehender Vereinbarung zwischen dem Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats von Groß-Berlin und dem Rat der Volksbeauftragten: (Anmerkung von Nelke: Die Revolution hatte das Kaiserreich erschüttert, worauf die Konterrevolution die Monarchie aufhob, eine reaktionäre Regierung aus MSPD und USPD schuf, die eine Vereinbarung mit der Spitze des Rätesystems – die ebenfalls von der MSPD und der USPD beherrscht war – einging, die das Rätesystem zum Feigenblatt des Staates machte. Dieses Feigenblatt brauchte der Staat jedoch nur solange, um sich zu festigen. Indem die oberste Exekutive des Großberliner Rätesystems darauf verzichtete revolutionär aufzutreten, brach sie sich selbst das Genick. Objektiv konnte auch eine Spitze des Rätesystems, die auf Parteipolitik beruhte, nicht revolutionär handeln. Wenn das reale Rätesystem in Berlin im November 1918 wirklich revolutionär gewesen wäre, hätte es das Proletariat auf den Sturz der Ebert-Regierung und die Zerschlagung des Staates orientiert. Doch sehen wir uns jetzt die einzelnen Punkte des Kuhhandels zwischen der Exekutive des Berliner Rätesystems und des konterrevolutionären Staates genauer an):
1. Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen sozialistischen Republik. Aufgabe ist es, die Errungenschaften der Revolution zu behaupten und auszubauen, sowie die Gegenrevolution niederzuhalten. (Anmerkung von Nelke: Um die Revolution auszubauen, hätte die Exekutive des Rätesystems nicht mit der konterrevolutionären Ebert-Regierung Vereinbarungen treffen dürfen, sondern hätte deren Sturz vorbereiten müssen.)
2. Bis eine Delegiertenversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte einen Vollzugsrat der deutschen Republik gewählt hat, übt der Berliner Vollzugsrat die Funktionen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen Republik im Einverständnis mit den Arbeiter- und Soldatenräten von Groß-Berlin aus. (Anmerkung von Nelke: Dadurch war die Exekutive der Berliner ArbeiterInnen- und Soldatenräte gleichzeitig die provisorische Spitze des gesamten deutschen Rätesystems. Und diese gewährte Ebert durch diese Vereinbarung Zeit, um die Konterrevolution zu organisieren! Auf dem 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918 wurde dann ein deutschlandweiter Zetralrat gewählt, in dem ausschließlich MSPDler saßen, siehe dazu das Kapitel Stärken und Schwächen der Rätebewegung von 1918/19.)
3. Die Bestellung des Rates der Volksbeauftragten durch den Arbeiter- und Soldatenrat von Groß-Berlin bedeutet die Übertragung der Exekutive der Republik. (Anmerkung von Nelke: Anstatt den revolutionären Sturz der konterrevolutionären Regierung des „Rates der Volksbeauftragten“ aktiv vorzubereiten, erkannte das deutsche Rätesystem seinen zukünftigen Henker feierlich an.)
4. Die Berufung und Abberufung der Mitglieder des entscheidenden Kabinetts der Republik und – bis zur endgültigen Klärung der staatlichen Verhältnisse – auch Preußens erfolgt durch den zentralen Vollzugsrat, dem auch das Recht der Kontrolle zusteht (Anmerkung von Nelke: Das Rätesystem beschränkte sich also ideologisch auf eine „Kontrolle“ des Staates, was die praktische Kontrolle des Rätesystems durch den Staat bedeutete!)
5. Bei der Berufung der Fachminister durch das Kabinett ist der Vollzugsrat zu hören.“ (Vereinbarung zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und dem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, 22.11.1918, zitiert nach Teo Panther (Hg.), Alle Macht den Räten!, Bd. I, Novemberrevolution 1918, Unrast-Verlag, Münster 2007, S. 178.)
Auch der letzte Punkt der Vereinbarung mit dem reaktionären Ebert-Regime belegte noch einmal den objektiv nichtrevolutionären Charakter der Exekutive des deutschen Rätesystems und dessen Oberhaupt Richard Müller. Anstatt die Staatshierarchie durch die proletarisch-klassenkämpferische Selbstorganisation zu stürzen, um dann eine klassen- und staatenlose Gesellschaft aufbauen zu können, wollte der Vollzugsrat die personelle Bestückung der Staatsspitze mitbestimmen! Die wirklichen RevolutionärInnen innerhalb des Rätesystems hätten sich sofort in schärfster Weise vom Vollzugsrat und dessen Vorsitzenden Richard Müller distanzieren und mit dem Aufbau einer revolutionären Strömung/Fraktion im Rahmen der Rätebewegung beginnen müssen. Doch der Spartakusbund war ja zu dieser Zeit – wenn auch ein sehr selbständiger – Teil der USPD, deren rechter Flügel Teil der Regierung war!
So fehlte es der Kritik Rosa Luxemburgs an der Kapitulation des Vollzugsrates der ArbeiterInnen- und Soldatenräte gegenüber dem Ebert-Regime an notwendiger Schärfe. Sie schrieb: „Das Recht der Souveränität war nach dem Willen der A(rbeiter)- und S(oldaten)-Räte auf Seiten des Vollzugsrates, die tatsächliche Macht aber haben die Ebert und Co. auf ihre Seite zu bringen gewusst.
Durch endlose Kommissionssitzungen, Kompetenzberatungen wussten die Leute den Vollzugsrat hinzuhalten und die Frage des gegenseitigen Verhältnisses in Schwebe zu halten. Derweil aber vor den Kulissen debattiert wurde, haben die Ebert-Leute hinter den Kulissen gehandelt. Sie haben die gegenrevolutionären Elemente mobil gemacht, sich auf das reaktionäre Offizierskorps gestützt, sich in der Bourgeoisie und dem Militär Stützpunkte geschaffen und den Vollzugsrat mit skrupellosen Zynismus an die Wand gedrückt. (…)
Freilich, kein politischer Machtfaktor lässt sich je die Macht entgleiten, es sei denn durch eigene Schuld. Nur die Aktionsunfähigkeit und die eigene Indolenz des Vollzugsrats hat den Ebert-Scheidemann das Spiel ermöglicht.“ (Rosa Luxemburg, Um den Vollzugsrat, zitiert nach Teo Panther (Hg.), Alle Macht den Räten!, Bd. I, a.a.O., S. 187 und 189.)
Doch viele lokale Berliner ArbeiterInnenräte besetzten im November/Dezember „wild“ die Betriebe und entmachteten das alte Management. So entließ zum Beispiel der ArbeiterInnenrat der staatlichen Heereswerkstätten in Spandau die gesamte Betriebsleitung wegen Korruptionsvorwürfen. Anstatt solche lokalen Klassenkämpfe gegen die BesitzerInnen und FunktionärInnen des Kapitals zu unterstützen und zu zentralisieren, behinderte der Berliner Vollzugsrat als faktische gesamtdeutsche Exekutive des Rätesystems die lokalen Räte in ihrem Klassenkampf, indem er am 12. November die wirtschaftliche Interessenvertretung den sozialreaktionären Gewerkschaften übertrug. Den gleichen Gewerkschaften, die während des Krieges einen Burgfrieden mit der deutschen Bourgeoisie eingegangen waren und sich als die hinterhältigsten Klassenfeinde des Proletariats offenbart hatten! Auch der Einfluss auf die kommunalen Instanzen der lokalen ArbeiterInnenräte ging mit Hilfe der MSPD- und USPD-PolitikerInnen, welche den Vollzugsrat völlig beherrschten, zurück. So untersagte der Vollzugsrat am 11. November 1918 den lokalen Räten jede effektive Eimischung in oder gar die Entmachtung der bisherigen kommunalen Politik, die damit gegen die Revolution stabilisiert wurde. Für diese Entmachtung der lokalen Räte ist auch Richard Müller persönlich verantwortlich. Wenn er sich nicht gegen die MSPD durchsetzen konnte, dann hätte er zurücktreten und das Proletariat gegen den Vollzugsrat mobilisieren müssen. Doch das tat er nicht, er blieb ein Feigenblatt der Konterrevolution und betrog sich selbst und das Proletariat mit scheinrevolutionären Phrasen.
Durch die Parteien MSPD und USPD wurden die Räte als potenzielle Organe des selbstorganisierten proletarischen Klassenkampfes faktisch zu Organen der Klassenkollaboration mit dem Staat. Auch die Revolutionären Obleute um Richard Müller haben durch ihre opportunistische Anpassung an die MSPD der Konterrevolution Vorschub geleistet. Diese Konterrevolution begann nun damit das Rätesystem zu zerstören und durch ein parlamentarisch-demokratisches System zu ersetzen. Diese Konterrevolution wurde von der MSPD und vom rechten Flügel der USPD getragen, wenn auch der letztere nicht so konsequent konterrevolutionär war wie die MSPD. Die MSPD versuchte einen möglichst raschen Termin für die parlamentarische Wahl der Nationalversammlung festzulegen. Der rechte USPD-Flügel versuchte die Wahl zur Nationalversammlung hinauszuschieben und ideologisch die parlamentarische Demokratie mit dem Rätesystem zu versöhnen. Der Termin für die Wahlen zur Nationalversammlung wurde schließlich für den 19. Januar 1919 festgelegt.
Alle UnterstützerInnen des reinen Rätesystems – vom linken USPD-Flügel, den Revolutionären Obleuten, dem Spartakusbund und andere radikalmarxistische, anarchistische und syndikalistische Kräfte – traten grundsätzlich gegen die Nationalversammlung als Bollwerk der Konterrevolution auf. Doch diese Kräfte wussten nur gemeinsam, was sie nicht wollten. Aber jede einzelne Strömung für sich hatte andere Vorstellungen von einem Rätesystem. Die bisherigen Erfahrungen der Revolution reichten noch nicht aus, dass sie einen klaren theoretischen Ausdruck bekamen und diese Theorie wieder in eine zielklare revolutionäre Praxis überführt werden konnte. Die ideologische Tradition des Marxismus und Anarchismus erwies sich auch zunehmend als geistige Schranke der weiteren Radikalisierung. Weder der Marxismus noch der Anarchismus wies den Räten damals im November/Dezember den klaren Weg: Reinigung der Räte vom Berufspolitikerinnentum, Zerschlagung des Staates, Überwindung der Warenproduktion, Schaffung der ersten Grundlagen einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft auf dem Gebiet des deutschen Sprachraumes als wichtiger Beitrag zur Weltrevolution. Die UnterstützerInnen des reinen Rätesystems hatten weder diese notwendige geistige Klarheit noch die Mehrheit des Proletariats hinter sich.
Der 1. Reichsrätekongress vom 16. bis 22. Dezember in Berlin war klar in der Hand des MSPD-Parteiapparates. Nur 179 Delegierte waren ArbeiterInnen oder Angestellte. Bei den Angestellten gilt es noch zu beachten, dass diese im Kaiserreich als lohnabhängige KleinbürgerInnen klar sozial von der ArbeiterInnenklasse getrennt waren, wenn auch viele von ihnen während des Krieges eine sozialökonomische und -psychologische Proletarisierung durchliefen. Dann waren da noch auf dem Kongress 71 Intellektuelle und FreiberuflerInnen anwesend. Und auf die 195 Gewerkschafts- und ParteifunktionärInnen, Abgeordneten und JournalistInnen konnte sich die MSPD natürlich auch voll verlassen. Drei Viertel der Delegierten des Rätekongresses gehörten dieser konterrevolutionären Partei an. Die 50 Revolutionären Obleute und die Handvoll SpartakistInnen auf diesem Kongress konnten die vollständige Entmachtung der ArbeiterInnen- und Soldatenräte nicht verhindern.
Wenn auch vor dem Sitzungsort unter der Führung von Karl Liebknecht 250.000 Menschen für die Absetzung der Ebert-Regierung, die Bewaffnung des Proletariats und für „Alle Macht den Räten“ demonstrierten, wurde während der Sitzung der Sieg der Konterrevolution, die von innen das Rätesystem ausgehöhlt hatte, offenbar. Die Mehrheit der Delegierten stimmte für die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie. Die USPD trat für einen Staat auf Grundlage des Rätesystems ein. In dieser Frage – ein Staat, der sich auf das Rätesystem stützte – bestand im Großen und Ganzen Einigkeit zwischen den Revolutionären Obleuten und den noch radikaleren MarxistInnen. Doch diese Perspektive war grundlegend falsch. Staat und das Rätesystem als Ausdruck des selbstorganisierten proletarischen Klassenkampfes waren miteinander unvereinbar. Deshalb wurden ja auch die revolutionären Räte durch die „sowjetische“ Lenin/Trotzki-Regierung zerstört. Die Räte hätten die Staaten zertrümmern müssen – und sich danach selbst zu Organen der klassen- und staatenlosen Gesellschaft transformieren müssen. In Russland fehlten dazu vor allem die objektiven Voraussetzungen – das Proletariat bildete noch eine Minderheit in der Gesellschaft. In Deutschland scheiterte die Revolution in erster Linie an der geistigen Unreife – sowohl der Mehrheit des Proletariats als auch dessen revolutionären Minderheiten. Auch der USPD-Antrag auf dem Reichsrätekongress, der ein Staat auf der Grundlage des Rätesystems vorsah und mit 344 zu 98 Stimmen abgelehnt wurde, war ein Ausdruck der Schwäche der damaligen Rätebewegung. Die Novemberrevolution wurde durch diesen Rätekongress konterrevolutionär beendet.

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