Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921)

Zum 100. Jahrestag des Beginns der russischen Revolution veröffentlichen wir den ersten einer ganzen Reihe von Texten. Dies geschieht unter der gemeinsamen Überschrift „Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921)“. Im ersten Text werden Klassenkämpfe im zaristischen Russland beschrieben. Die gesamte Broschüre „Schriften zur russischen Revolution (1917-1921)“ könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

1. Klassenkämpfe im zaristischen Russland

Das vorrevolutionäre Russland war ein Agrarstaat, aber bereits eine Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus. Es war in der Entwicklung im Vergleich zu Westeuropa und Nordamerika weit zurückgeblieben in seiner technologischen und sozialökonomischen Entwicklung. Doch mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes ist auch die Geschichte von Nationalstaaten eine Teilgeschichte des globalen Kapitalismus. Zurückgebliebene Nationalstaaten wiederholen nicht sklavisch die Geschichte der fortgeschrittenen Nationen. Der globale Konkurrenzkampf der Nationalstaaten zwingt die Regierenden der unterentwickelten Nationen ihre eigene Entwicklung zu beschleunigen – wenn sie nicht im wirtschaftlichen, politisch-diplomatischen und militärischen Gerangel ständig das Nachsehen haben wollen. Außerdem besteht die Möglichkeit rückständiger Nationalstaaten die modernsten technologischen Fortschritte der grundsätzlich sozialreaktionären kapitalistischen Zivilisationsbarbarei fertig zu übernehmen, anstatt sie selbst zu entwickeln. Denn die stärkste Waffe im globalen Konkurrenzkampf der Nationalstaaten war und ist eine hohe Arbeitsproduktivität –also war und ist die Fabrik als proletarische Hölle die Grundlage für nationalstaatliche Himmelstürmerei.
Auch das zaristische Russland versuchte seinen Agrarsektor auf bürgerliche Weise zu modernisieren und die Industrialisierung des Landes in Angriff zu nehmen. Dabei wollten aber die Regierenden eine politische Transformation von der zaristischen Autokratie, welche sich im 18. Jahrhundert herausentwickelt und die im 19. Jahrhundert ausgebaut wurde, zur privatkapitalistischen Demokratie verhindern. Doch das zaristische Russland konnte die bürgerliche Modernisierung nur in Angriff nehmen, die letztendliche Umwandlung von einem Agrar- zu einem Industriestaat vollzogen erst die partei-„kommunistischen“ BerufspolitikerInnen auf Grundlage staatskapitalistischer Produktionsverhältnisse (siehe dazu die Broschüre: Nelke, Der sowjetische Staatskapitalismus und Imperialismus, Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2012).
Eine bürgerliche Modernisierung der Landwirtschaft, welche der zaristische Staat bereits in Angriff nahm, bedeutete die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Verwandlung allen Bodens in potenzielles Kapital, auf dem AgrarkapitalistInnen das Landproletariat ausbeuten. Selbstverständlich gibt es auch in einer kapitalisierten Landwirtschaft noch KleinbäuerInnen. Absolut unvereinbar ist eine kapitalistische Landwirtschaft mit den urwüchsigen BäuerInnengemeinden kleiner PrivateigentümerInnen, die selbstgenügsam fast alles produzierten was sie brauchten und nur die Überschüsse in Waren verwandelten. Kapitalistische Landwirtschaft heißt auch Agrarproduktion für den Markt und die Verwandlung von BäuerInnen in Marktsubjekte, welche für den globalen Agrarmarkt produzieren und auf den Lebensmittel- und Agrartechnikmärkten konsumieren. In England entwickelte sich der Agrarkapitalismus im 16. Jahrhundert auf dem Friedhof der urwüchsigen BäuerInnengemeinde kleiner PrivateigentümerInnen, der Allmende. Die ehemals adligen GroßgrundbesitzerInnen verbürgerlichten und verpachteten den Boden an AgrarkapitalistInnen. Beide Klassen lebten von der Ausbeutung des Landproletariats.
Die Kapitalisierung der Landwirtschaft war im zaristischen Russland Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch lange nicht soweit gediegen. Eine wichtige Bedingung für die bürgerliche Modernisierung der Landwirtschaft und die Bereitstellung von Lohnarbeitskräften für die beginnende Industrialisierung war die Aufhebung der Leibeigenschaft am 19. Februar 1861. Doch die meist adeligen GroßgrundbesitzerInnen beherrschten den Boden, AgrarkapitalistInnen gab es im zaristischen Russland so gut wie gar nicht, lediglich einige GroßbäuerInnen, welche embryonal die Lohnarbeit von Knechten und Mägden ausbeuteten. Das Landproletariat bestand am Vorabend der russischen Revolution lediglich aus fünf Millionen Menschen. Allerdings besaß auch die russische Bourgeoisie vor der Revolution schon vereinzelt Boden.
Leo Trotzki schrieb über die Bodenverteilung vor der Revolution von 1905, auf die wir weiter unten noch kurz eingehen werden: „Die Gesamtzahl des nutzbaren Bodens in den Grenzen des europäischen Russland wurde am Vorabend der ersten Revolution (von 1905, Anmerkung von Nelke) auf 280 Millionen Deßjatinen geschätzt. Der Boden der Dorfgemeinden umfasste etwa 140 Millionen, die Kronländereien etwa 5 Millionen, Kirchen- und Klosterbesitz etwa 2 ½ Millionen Deßjatinen. Von dem Privatbesitz an Boden entfielen auf 30 000 Großgrundbesitzer, von denen jedem über 500 Deßjatinen gehörte, 70 Millionen Deßjatinen, das heißt die gleiche Zahl, über die annähernd 10 Millionen Bauernfamilien verfügten. Diese Bodenstatistik bildete das fertige Programm des Bauernkrieges.“ (Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Erster Teil: Februarrevolution, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1982, S. 48.)
Bevor wir zur Agrarrevolte als Teil der Revolution von 1905 zu sprechen kommen wollen wir uns mit der Entwicklung des russischen Industriekapitalismus und des proletarischen Klassenkampfes beschäftigen. Der eigentliche Beginn der kapitalistischen Industrialisierung Russlands fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zentren der Industrie in Russland wurden die Hauptstadt Petrograd, Moskau, die Bergbaubetriebe im Donezgebiet, die Hüttenwerke am Don und die Schwarzmeer-Küstengebiete. Zwischen 1860 und 1900 steigerte Russland seine Eisen- und Stahlproduktion um das Zehnfache. Auch die Erdölförderung bei Baku konnte zwischen 1870 und 1900 von 1,8 auf 632 Millionen Pud (1 Pud=16Kg) gesteigert werden.
Eine besondere Eigentümlichkeit der sozialökonomischen Entwicklung Russlands im Vergleich mit Westeuropa war, dass sich hier vor dem Beginn der kapitalistischen Industrialisierung das Handwerk noch nicht grundsätzlich vom Ackerbau getrennt hatte. Die Folge dessen war das weitgehende Fehlen der handwerklich-zünftigen Tradition in den russischen Städten. Wie wir bereits oben dargelegt haben, wiederholen die unterentwickelten Nationalstaaten nicht schematisch die Geschichte der hoch entwickelten Nationalstaaten. So entwickelte sich in Russland der Industriekapitalismus sofort als Großproduktion auf dem technologisch modernsten Stande. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals war in Russland weiter fortgeschritten als in den USA. Während in den Vereinigten Staaten 1914 die ProletarierInnen, welche in kleinen Betrieben mit einer Beschäftigtenzahl von unter 100 ArbeiterInnen produzierten, 35 % des gesamten Industrieproletariats darstellten, waren in Russland zur gleichen Zeit nur 17,8 % der industriellen Arbeitskräfte in Kleinbetrieben beschäftigt. Der prozentuale Anteil von IndustriearbeiterInnen in mittleren und größeren Unternehmen mit 100 bis 1000 Arbeitskräften am jeweiligen Gesamtproletariat war in beiden Staaten ungefähr gleich. Doch die IndustrieproletarierInnen, welche in Riesenbetrieben mit über 1000 Arbeitskräften ausgebeutet worden sind, stellten in Russland 41,4 % der gesamten industriellen ArbeiterInnenklasse dar, während in den USA der Prozentsatz der ArbeiterInnen von Riesenbetrieben am gesamten Industrieproletariat bei 17,8% lag. In den wichtigsten russischen Industriestädten Petrograd (44,4%) und Moskau (57,3%) stellten die industriellen Beschäftigten in Riesenunternehmen sogar noch einen größeren Teil am Gesamtproletariat.
Diese hohe Konzentration und Zentralisation des quantitativ noch sehr schwach ausgeprägten Industriekapitals hatte sehr hohen Einfluss auf die soziale Zusammensetzung des russischen Industrieproletariats. Die Konzentration in Riesenfabriken begünstigte den kollektiven Klassenkampf und die Entstehung von Massenorganen des selbstorganisierten Klassenkampfes. Dieser Fakt erklärt die große Klassenkampfsubjektivität des russischen Industrieproletariats, zu dem am Vorabend der Februarrevolution von 1917 nicht viel mehr als 3,5 Millionen Menschen gehörten.
Die hohe Konzentration des zahlenmäßig kleinen russischen Proletariats in Riesenbetrieben war auch Ausdruck vom weitgehenden Fehlen einer handwerklich-zünftigen Tradition des russischen Proletariats. Während zum Beispiel das Proletariat in westlichen Industriestaaten mit Gesellen und TagelöhnerInnen im Kleinhandwerk einen relativ starken kleinbürgerlich-handwerklichen Schwanz besaß, war die kleinbürgerlich-handwerkliche Tradition des russischen Proletariats verhältnismäßig schwach. Auch das wirkte sich positiv auf die Kampfkraft des russischen Proletariats aus, da bei den russischen ArbeiterInnen berufsständischer Kastengeist als eine Folge der handwerklich-zünftigen Tradition wesentlich geringer zu finden war als bei ihren westeuropäischen KollegInnen. Dafür war die bäuerliche Tradition des russischen Proletariats wesentlich größer als in den westeuropäischen Industriestaaten. Auch ein nicht geringer Teil des industriellen Proletariats wurde von bäuerlichen Saisonarbeitskräften gestellt, also von frisch proletarisierten Menschen, welche die Fabrikdisziplin noch relativ schwach verinnerlicht hatten. Dies ist eine Erklärung für die große Kampfkraft des quantitativ schwachen russischen Proletariats.
Auch waren die russischen IndustriearbeiterInnen dem despotischen zaristischen Regime unterworfen und noch keine doppelt freien LohnarbeiterInnen wie in den hoch entwickelten kapitalistischen Industriestaaten. Diese waren einerseits frei von Produktionsmitteln und andererseits verfügten sie frei über ihre Persönlichkeit. Diese doppelte Freiheit führte und führt in kapitalistischen Industriestaaten bei den proletarisierten Menschen zu dem stummen Zwang der Verhältnisse, ihre Arbeitskraft an die verschiedenen kapitalistischen ProduktionsmittelbesitzerInnen zu vermieten. Ihre sozialökonomische Ausbeutung besteht darin, dass die LohnarbeiterInnen für das Kapital viel mehr Wert produzieren, als den, den sie in Form des Lohnes als Mietpreises der Arbeitskraft ausgezahlt bekommen. Der vom Proletariat produzierte Teil des Wertes, den sich die KapitalistInnen aneignen, ist der Mehrwert.
Die freie Verfügung über ihre Persönlichkeit durch die LohnarbeiterInnen in demokratischen Industriestaaten ist also nichts anderes als die Marktsubjektivität von proletarisierten Menschen, die ihre eigene Haut zu Markte tragen müssen, welche dann auch im kapitalistischen Produktionsprozess in der Regel kräftig gegerbt wird. Obwohl aber die freie Marktsubjektivität der LohnarbeiterInnen zur Ausbeutungsobjektivität führt, dazu, dass sie zu einem Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie werden, die entfremdet von den Produktionsmitteln für eine andere Klasse, die Bourgeoisie, fremdbestimmt Warenkapital produzieren, ist diese elende Marktsubjektivität auch Quelle von Freiheitsillusionen und kleinbürgerlicher Tendenzen beim Lohnproletariat. Die freie Marktsubjektivität kultiviert im proletarisierten Menschen nicht gerade selten den Kleinkrämer, der sich selbst auf dem Arbeitsmarkt völlig ausverkauft, die eigenen Bedürfnisse dabei oft so sehr verleugnend, dass er sie selbst kaum noch wahrnimmt, damit er nach außen immer schön „selbstbewusst“ und „aktiv“ auftreten kann. Gewerkschaften, diese Co-Managerinnen der kapitalistischen Ausbeutung, verstärken diese kleinbürgerlichen Tendenzen im Proletariat noch. Der Gewerkschaftskleinbürger verlangt dann gutes Geld für gute Arbeit, die Ware-Geld-Beziehung und die darauf beruhende produktive Tätigkeit als Lohnarbeit wird total verinnerlicht. Natürlich muss das Proletariat einen reproduktiven Klassenkampf führen, damit es nicht vom Kapital überausgebeutet wird und dieser Klassenkampf hat auch seine revolutionären Tendenzen, die von SozialrevolutionärInnen nicht gering geschätzt werden sollten. Aber genau so wenig darf die kleinbürgerliche Marktsubjektivität von doppelt freien LohnarbeiterInnen, welche auch noch im Klassenkampf mehr oder weniger reproduziert wird und nur durch die soziale Revolution überwunden werden kann, übersehen werden.
Nun, getrennt von den industriellen Produktionsmitteln waren die russischen LohnarbeiterInnen auch, allerdings war die freie Verfügung über ihre Persönlichkeit, also ihre Marktsubjektivität, stark eingeschränkt. Es gab im zaristischen Russland so etwas wie industrielle Leibeigenschaft – eine Tradition, welche der „sozialistische“ Staatskapitalismus verstärkt bei der ursprünglichen Industrialisierung der UdSSR fortsetzte. Ausdrücke von Anzeichen einer industriellen Leibeigenschaft waren im zaristischen Russland ein besonderes Lohnzahlungssystem, die teilweise Kasernierung der ArbeiterInnen und ein ultrarepressives Sozialgesetz. Diese Einschränkung der freien Marktsubjektivität der russischen LohnarbeiterInnen führte aber auch dazu, dass ihre kleinbürgerlichen Tendenzen relativ gering blieben, die despotische politische Unterdrückung durch das zaristische Regime aber den Kampfwillen des russischen Proletariats stärkte.
Für die russische Bourgeoisie bedeutete die hohe Konzentration und Zentralisation des Kapitals bei einem weitgehenden Fehlen einer handwerklich-zünftigen Tradition der russischen Städte, dass es zwischen ihr und dem Proletariat eine verhältnismäßig dünne Schicht von ökonomisch selbständigen KleinbürgerInnen gab. Allerdings gab es auch in Russland jenes von Bourgeoisie und/oder Staat lohnabhängige KleinbürgerInnentum, welches erst der Kapitalismus hervorbrachte und bis heute ständig erneuert reproduziert, bestehend aus den technischen und den unteren bis mittleren verwaltenden Angestellten der Bourgeoisie und den kleineren Staatsbeamten und -angestellten.
Außerdem waren die BesitzerInnen des hoch konzentrierten und zentralisierten russischen Kapitals häufig AusländerInnen, die sich durch ihre nationale Diplomatie beim russischen Staat vertreten ließen. Das erklärt auch das geringe Interesse der ausländischen Bourgeoisie an der Weiterentwicklung des kläglichen bürgerlichen Parlamentarismus (Duma), welcher am Rande des zaristischen Selbstherrschertums dahinvegetierte. In dieser Karikatur eines funktionierenden bürgerlichen Parlamentarismus war der politische Einfluss der liberalen Industriebourgeoisie geringer als der der vorwiegend adligen GroßgrundbesitzerInnen. Das Wahlgesetz von 1907 begünstigte eindeutig die GroßgrundbesitzerInnen, welche zur herrschenden, praktisch alles entscheidenden Gruppe wurden. Die liberale Bourgeoisie passte sich politisch immer stärker dem Zarismus und den GroßgrundbesitzerInnen an. Selbst die großbürgerlichen politischen Parteien (Kadetten und Oktobristen) waren organisatorische Bündnisse von russischer Großbourgeoisie, kleinbürgerlicher Intelligenz und GroßgrundbesitzerInnen.
Ein Teil des Großkapitals, besonders jener, welcher für die Bedürfnisse der russischen Armee produzierte, befand sich entweder in direkter staatlicher Hand oder produzierte im Staatsauftrag. War schon das angehäufte Industriekapital im zaristischen Russland absolut bescheiden, war der Teil über den die russische Bourgeoisie wirklich selbständig als soziale Kraft verfügte, noch schwächer. Das russische Kapital war also ein sozialökonomisches Verhältnis, was zwar noch nicht Russland beherrschte, aber schon durch starke Klassenkämpfe zwischen einer sozial schwachen und politisch unselbständigen Bourgeoisie und einem zwar zahlenmäßig schwachen aber dafür kampfstarken Proletariat geprägt war. Dieses russische Industriekapital als Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat war aber vor 1917 nur eine Insel im noch vorwiegend feudal geprägten zaristischen Agrarstaat.

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Schon im Jahre 1905 wollte und konnte weder das Proletariat noch die Mehrheit der BäuerInnen so weiter leben wie bisher. Es entwickelte sich eine revolutionäre Situation, die schließlich in einem Revolutionsversuch mündete, der jedoch noch einmal von der zaristischen Sozialreaktion niedergeschlagen werden konnte.
Beschreiben wir die Revolution von 1905 als Generalprobe zur russischen Revolution von 1917 bis 1921 etwas genauer. Der erfolglose Krieg des zaristischen Russlands gegen Japan verschärfte alle sozialen Gegensätze im Inneren des Landes. Anfang Januar 1905 (alle Zeitangaben bis zur Oktoberrevolution erfolgen nach dem alten russischen Kalender) legte die Belegschaft des Petrograder Putilow-Werkes – des größten russischen Rüstungsunternehmens – die Arbeit nieder. Die zaristische Repression schlug sofort zu. Es wurden vier ArbeiterInnen wegen subversiver Tätigkeit eingesperrt. Doch damit steigerte das zaristische Regime nur die soziale Gärung unter den ArbeiterInnen.
In dieser Situation der sozialen Spannung organisierte der Pope Gapon am 22. Januar 1905, an einem Sonntag, ein Bittgang aus 100 000 ArbeiterInnen zum Zarenpalais. Obwohl der Organisator dieses devoten Aufmarsches, Gapon, Vorsitzender der von der zaristischen Polizei gesteuerten „Gesellschaft russischer Industrie- und Mühlenarbeiter“ war, ging die Reaktion zur blutigen Repression über. Der Polizeipräsident ließ auf den Bittgang schießen. Dieser Tag ging als „Blutsonntag“ in die russische Geschichte ein und wurde zum Fanal der Revolution von 1905.
Eine gewaltige proletarische Streikwelle überflutete Russland. Zuerst wurden von den ArbeiterInnen vorwiegend sozialökonomische Forderungen aufgestellt, doch in den Randgebieten des Zarenreiches – in Polen, im Baltikum und im Kaukasus – hatte das Proletariat Illusionen in die „nationale Befreiung“. Doch das Aufstellen von nationalistischen Losungen machte die ArbeiterInnen objektiv zum proletarischen Schwanz des bürgerlichen Nationalismus.
Im Sommer 1905 verebbte diese Streikwelle etwas, entfaltete aber im Herbst verstärkt ihre Kraft. Der neue Aufschwung des proletarischen Klassenkampfes ging diesmal von den Industriebezirken Moskaus aus und griff dann auch auf Petrograd über. Durch die Arbeitsniederlegung des Eisenbahnproletariats nahm der Klassenkampf die Form eines Generalstreikes an. Mit dem reproduktiven Klassenkampf des russischen Proletariats entwickelten sich auch die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung, die Gewerkschaften. Im demokratischen Kapitalismus wurde die Gewerkschaftsbürokratie zur Co-Managerin der kapitalistischen Ausbetung, doch selbst in den USA und in Westeuropa war diese Entwicklung im Jahre 1905 noch in den Anfangsstadien. Das zaristische Russland dachte nicht im Geringsten daran, den Gewerkschaften diese Rolle zuzugestehen. Doch die Gewerkschaften blieben im Schatten der ArbeiterInnenräte, die sich auf dem Höhepunkt der Streikwelle entwickelt hatten. Der Klassenkampf blieb objektiv reproduktiv, weil er nicht in einer sozialen Revolution mündete, doch nicht wenige russische ArbeiterInnen waren damals subjektiv revolutionär eingestellt.
Auf dem Lande entwickelte sich die Agrarrevolte der russischen BäuerInnen. Es überwogen auch hier sozialökonomische Forderungen, wobei diese in den Randgebieten mit den ideologischen Reproduktionen des Nationalismus „unterdrückter Nationen“ verschmolzen. Doch diese Nationalismen „unterdrückter Nationen“ waren genau so sozialreaktionär wie der russische Nationalismus. Insgesamt gesehen war die Agrarrevolte kleinbürgerlich, da sie auf die Enteignung des Großgrundbesitzes zu Gunsten kleinbäuerlichen Privateigentums zielte. Sie entwickelte sich zuerst im Zentrum Russlands, griff dann auf das ganze russische Schwarzerdgebiet über und erreichte schließlich im Sommer 1905 den Westen des Landes bis hinauf zum Baltikum. Auch jenseits des Kaukasus, in Georgien, rebellierten die BäuerInnen. Im Herbst beruhigte sich der Sturm der Agrarrevolte etwas, doch er holte nur Atem zum neuen Brausen. Das Zentrum des mit neuer Kraft entflammten bäuerlichen Protestes wurde das mittlere Wolgagebiet. Der BäuerInnenkrieg dehnte sich rasch auf das ganze Land aus. Die Agrarrevolte nahm die Formen von Zahlungsverweigerungen der Steuern und Abgaben, der Inbesitznahme der adligen Felder und Wälder und des Abbrennens von Gutshöfen an.
Doch die zaristische Sozialreaktion hatte im Jahre 1905 noch die Kraft, den Kampf des Proletariats und der BäuerInnen in Blut zu ersticken. Im Dezember 1905 wurden die Mitglieder des Petrograder ArbeiterInnenrates verhaftet, dass sich daraufhin erhebende Moskauer Proletariat konnte bis Ende des Jahres von der Konterrevolution niedergeschlagen werden. Mit der Erstickung der Agrarrevolte war die zaristische Reaktion bis 1907 beschäftigt.
Die sozialökonomischen Verbesserungen, die sich das russische Proletariat im Jahre 1905 erkämpft hatte, wurden ihm durch die siegreiche Sozialreaktion nach und nach wieder genommen. Streiks blieben weiterhin verboten. Doch das hielt die russischen ArbeiterInnen nicht davon ab, trotzdem massenhaft die Arbeit niederzulegen. Besonders die seit 1910 einsetzende Belebung der russischen Industrie gab auch dem proletarischen Klassenkampf neuen Auftrieb. Dieser Klassenkampf trieb zwischen 1912 und 1914 wieder einem neuen Höhepunkt entgegen. Besonders im ersten Halbjahr 1914 nahmen die (anti-)politischen Streiks gegen die zaristische Reaktion enorm zu.
Bis 1914 erholte sich also das russische Proletariat weitgehend von der Niederlage von 1905. Deshalb beteiligte sich auch das zaristische Russland unter anderem an der Seite von England und Frankreich am imperialistischen Ersten Weltkrieg. Der imperialistische Krieg und die in ihm sprießenden chauvinistischen und nationalistischen Ideologien stärken häufig zumindest am Anfang die Bourgeoisie und schwächen das klassenkämpferisch-progressive Proletariat. So war es auch im zaristischen Russland.
Doch dieses war den Anforderungen des imperialistischen Kriegsgemetzels als dem konzentriertesten Ausdruck der globalen Konkurrenz der Nationalstaaten und der kapitalistischen Zivilisationsbarbarei nicht gewachsen. Die militärische Offensive des zaristischen Russland in Richtung Westen kam schon im Herbst 1914 zum Stehen, ab 1915 waren die Fronten festgefahren. Bis zu Beginn dieses Jahres verlor die vorwiegend bäuerliche Armee bereits 1,8 Millionen Soldaten durch Tod, Verwundung und Kriegsgefangenschaft. Der russische Imperialismus rekrutierte vorwiegend aus den Dörfern zwei Millionen Männer, neues Kanonenfutter. Doch die Ausbildung und die Bewaffnung der neu rekrutierten Soldaten waren äußerst mangelhaft, da die die Armeeführung nur mit einem kurzen Krieg gerechnet hatte. Auch die industrielle Basis des russischen Militarismus erwies sich für die moderne Kriegsbarbarei als zu schwach –trotz der Umstellung vieler ziviler Unternehmen auf Kriegsproduktion. Während auch die russische Bourgeoisie prächtig am globalen Gemetzel verdiente, fraß er die finanziellen Ressourcen des russischen Staates auf. Der Erste Weltkrieg kostete dem zaristischen Russland im Jahre 1915 zehn Milliarden Rubel und 1916 bereits neunzehn Milliarden Rubel.
Das Imperialistische Kriegsgemetzel brachte auch für das russische Proletariat eine verschärfte Überausbeutung und eine weitgehende soziale Neuzusammensetzung. Die Rekrutierung für den imperialistischen Krieg innerhalb des russischen Proletariats nahm der Zarismus am Anfang nicht nur nach militärischen Maßstäben, sondern auch nach polizeilichen Gesichtspunkten vor. Die zaristische Sozialreaktion nutzte das globale Gemetzel, um die klassenkämpferischsten Arbeiter loszuwerden und an die Front zu schicken. In den ersten Kriegsmonaten wurden bis zu 40% des Industrieproletariats für die russische Armee rekrutiert. Die russische Bourgeoisie protestierte schließlich erfolgreich gegen den gewaltigen Aderlass an „ihren“ Profitproduzenten. Die massenhafte Rekrutierung von Industriearbeitern für das militärische Schlachtfeld wurde gestoppt, aber als Drohung für den Fall des Klassenkampfes leistete sie der Sozialreaktion noch wichtige Dienste. Das an die Front Schicken von klassenkämpferischen Arbeitern lähmte zuerst den proletarischen Klassenkampf. Die zweite Seite der Medaille war allerdings, dass dadurch klassenbewusste Proletarier den bereits existierenden sozialen Unmut ihrer zumeist bäuerlichen Kameraden innerhalb der Armee weiter entfachen und eine klarere Richtung geben konnten. Das war für den weiteren Verlauf des revolutionären Prozesses in Russland nicht unwichtig.
Doch die für den imperialistischen Krieg rekrutierten Industriearbeiter mussten ersetzt werden. Die Bourgeoisie rekrutierte neue SoldatInnen für den sozialökonomischen Krieg um Maximalprofite aus BäuerInnen, dem städtischen KleinbürgerInnentum, weniger qualifizierten ArbeiterInnen, Halbwüchsigen und den Frauen. Der Frauenanteil am Industrieproletariat stieg durch den imperialistischen Krieg von 32% auf 40%. Auch die Konzentration der russischen IndustriearbeiterInnen in Riesenunternehmen wurde durch das globale Gemetzel beschleunigt. Zwischen 1914 und 1917 stieg die Anzahl der Großbetriebe mit über 500 ArbeiterInnen fast um das Doppelte. Wegen der Liquidierung der polnischen und baltischen Industriebetriebe und der allgemeinen Zunahme der Kriegsproduktion wuchs das Petrograder Proletariat bis 1917 auf etwa 400 000 ArbeiterInnen, davon wurden 350 000 in 140 Großbetrieben ausgebeutet. Bis zu 50% des Ausstoßes der russischen Industrie war für das Kriegsgemetzel bestimmt, darunter 75 Prozent der Textilprodukte.
Die soziale Neuzusammensetzung des russischen Proletariats schwächte zuerst dessen Kampfkraft. Die ideologische Kriegsoffensive der Sozialreaktion mit ihrem großrussischen Nationalismus und Chauvinismus lähmte das Proletariat geistig. Die subjektiv sozialrevolutionären ArbeiterInnen – der proletarische Flügel des Anarchismus und des Parteimarxismus, über beide Strömungen mehr weiter unten – hatten zu Beginn des Krieges einen sehr schweren Stand in den Betrieben. Allein dass in der Industriestadt Moskau der städtische Mob unter Aufsicht der zaristischen Polizei im Mai 1915 ein Pogrom gegen die deutsche Bevölkerung organisieren konnte, ohne dass dieses reaktionäre Pack auf proletarischen Widerstand stieß, zeigte dass der imperialistische Krieg am Anfang auch ein erfolgreiches Mittel des Zarismus und der Bourgeoisie war, um den proletarischen Klassenkampf einzudämmen.
Doch die Überausbeutung und die soziale Verelendung konnten auch von den frisch proletarisierten Menschen nicht kampflos hingenommen werden. Die Teuerungen bei den Lebensmitteln übten einen gewaltigen Druck auf die Reallöhne aus, während die Jagt nach dem Kriegsprofit zu einer Extensivierung (Verlängerung der Arbeitszeit) und/oder Intensivierung (Erhöhung der Arbeitsintensität/Arbeitsverdichtung) der Ausbeutung führte. Im Juni 1915 trat als erstes das Textilproletariat in den Kampf. Die Bullen reagieren mit Gewalt, am 5. Juni schossen sie in Kostroma auf TextilarbeiterInnen. Die WeberInnen hatten 4 Tode und 9 Verwundete zu beklagen. Am 10. August wurden in Iwanowo-Wosnessenk von den Repressivorganen 16 ProletarierInnen erschossen und 30 verwundet. Als Antwort auf den zaristischen Bullenterror entwickelten sich einige Proteststreiks. Doch verglichen mit dem ersten Halbjahr von 1914 wies dieses neue Aufflackern des Klassenkampfes im Jahre 1915 ein wesentlich geringeres Niveau auf.
Am 9. Januar 1916, dem elften Jahrestag des „Blutsonntages“ von 1905, entwickelt sich eine umfangreiche Streikbewegung. Blutige Zusammenstöße zwischen ArbeiterInnen und zaristischen Repressionsorganen begleiteten die Arbeitsniederlegungen. Während die ProletarierInnen versuchten die Soldaten auf ihre Seite zu ziehen, kämpften sie kompromisslos und voller Hass gegen die zaristische Polizei.
Ende 1916 kam es zu gewaltigen Preissteigerungen. Zur Inflation und der wachsenden Zerstörung der Transportwege kam ein akuter Warenmangel dazu. Der Konsum der russischen Bevölkerung nahm um die Hälfte ab. Auf Grund der Verelendung nahm der proletarische Klassenkampf stark zu. Oktober 1916 erreichte der Kampf des Petrograder Proletariats seinen Höhepunkt. Eine Welle von Betriebsversammlungen überschwemmte die russische Hauptstadt. Themen der Betriebsversammlungen waren die Teuerungen, die Ernährung, der Krieg und das zaristische Regime. (Anti-)politische Streiks entwickelten sich. Diese wurden durch kämpferische Straßendemonstrationen gekrönt. Es kam zu Verbrüderungen zwischen IndustriearbeiterInnen und Soldaten. Als die revolutionären Matrosen der baltischen Flotte, die gegen den imperialistischen Krieg gemeutert hatten, vor Gericht gestellt wurden, brachen Solidaritätsstreiks aus.
Mit der Verschärfung des proletarischen Klassenkampfes verschob sich auch sein sozialer Schwerpunkt von den Textil- zu den MetallarbeiterInnen. Am 9. Januar 1917 streikten in Petrograd 150 000 ArbeiterInnen. Die MetallarbeiterInnen standen an der Spitze dieser Arbeitsniederlegung. Die Atmosphäre war stark erhitzt, das kollektive Empfinden der Klasse erspürte, dass es kein Zurück geben konnte. In den ersten zwei Februarwochen entwickelten sich permanent Streiks und Versammlungen. Die russische Hauptstadt ging der Februarrevolution entgegen.
Das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse radikalisierte sich im Verlauf des imperialistischen Gemetzels und des neu entfachten proletarischen Klassenkampfes. Der Gedanke an einen Generalstreik erfasst immer mehr Gehirne des klassenkämpferischen Proletariats, da die einzelnen Bourgeois kaum an Konzessionen an die jeweiligen Belegschaften dachten. Auch die feindliche Haltung gegenüber dem zaristischen Staat nahm zu. Während sich im Jahre 1915 zweieinhalb Mal weniger ArbeiterInnen an (anti-)politischen Streiks als an sozialökonomischen Streiks beteiligen, waren es 1916 zwei Mal weniger. In den ersten beiden Monaten von 1917 streikten sechs Mal mehr ArbeiterInnen für (anti-) politische Forderungen als für sozialökonomische. Das klassenkämpferische russische Proletariat konnte also weder durch die vorübergehend siegreiche Konterrevolution von 1905 noch durch das imperialistische Kriegsgemetzel für lange zum Schweigen gebracht werden!
Doch wie sah es auf dem Lande, wo die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit Russlands lebte, aus? Nachdem der Zarismus die Revolution von 1905 niedergeschlagen hatte, setzte er die kapitalistische Modernisierung der Landwirtschaft fort. Sein sozialreaktionäres Ziel bestand darin, durch die soziale Differenzierung der BäuerInnen die Agrarrevolte gegen die GroßgrundbesitzerInnen im Keim zu ersticken. Dieses Ziel sollte durch die Zersetzung und Zerstörung der urwüchsigen russischen Bauerngemeinschaft kleiner PrivatbodenbestellerInnen, der Mir, erreicht werden. Diese Zerstörung der alten Dorfgemeinschaft war neben der Aufhebung der Leibeigenschaft die zweite wichtige Voraussetzung der Kapitalisierung der Landwirtschaft.
Doch vor der dritten Vorraussetzung, einer Bodenreform, welche den gutsbesitzenden Adel enteignet hätte, schreckte der Zarismus zurück. Auf Grund der Kräftegruppierung von zaristischer Staatsbürokratie, GroßgrundbesitzerInnen und Bourgeoisie war keine obere Klasse eine Fürsprecherin der Bodenreform. Die GroßgrundbesitzerInnen waren aus sozialökonomischen Gründen gegen eine solche, die zaristische Bürokratie stützte sich politisch auf die GroßgrundbesitzerInnen und die russische Bourgeoisie klammerte sich in ihrer sozialen Schwäche im Klassenkampf gegen das Proletariat lieber an die zaristische Bürokratie und die GroßgrundbesitzerInnen als die Agrarrevolte gegen den Großgrundbesitz zu unterstützen. Eine Bodenreform von oben war aber nicht nur absolut notwendig um die russische Landwirtschaft endgültig zu entfeudalisieren, sondern auch um einer Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz wirklich die soziale Wurzel zu entziehen. Die beginnende Zerstörung der Mir führte zu einer Durchdringung des Feudalismus mit kapitalistischen Elementen, aber nicht zu einer sozialen Austrocknung des BäuerInnenkrieges gegen den Großgrundbesitz. So entwickelte sich die gewaltige kleinbürgerliche Agrarrevolte als Teil der russischen Revolution und als ein klarer Ausdruck der Tatsache, dass das Kalkül der zaristischen Sozialreaktion nicht aufging.
Doch kehren wir zurück zur vorrevolutionären russischen Landwirtschaft. Der Prozess der Zersetzung der Mir begann mit der Aussonderung kapitalistischer FarmerInnen aus der BäuerInnengemeinde. Das Gesetz vom 9. November 1906 bildete dazu die rechtliche Grundlage. Es sicherte einer Minderheit der Mir das Recht zu, sich aus der BäuerInnengemeinschaft auszusiedeln. Die Oberschicht der BäuerInnen konnte sich Gemeindeland aneignen und zu kapitalistischen FarmerInnen werden. Die Mir wurde durch die zaristische Sozialreaktion auch relativ erfolgreich zersetzt und die Kapitalisierung der Landwirtschaft begann ebenfalls, aber beides eben noch nicht so stark, um einer kleinbäuerlichen Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz dem Boden zu entziehen. Bis zum 1. Januar 1916 sonderten sich zweieinhalb Millionen PrivatbäuerInnen aus der Mir aus. Sie besaßen 17 Millionen Deßjatinen. Weitere zwei Millionen HofbesitzerInnen forderten die Ausgliederung von 14 Millionen Deßjatinen Gemeindeland. Doch das neu geschaffene Privateigentum erwies sich nicht als genügend lebensfähig. Die kleinen BäuerInnen und die GroßgrundbesitzerInnen versuchten gleichermaßen ihr Privateigentum loszuwerden – die GroßbäuerInnen (Kulaken) traten in beiden Fällen als KäuferInnen auf. Die GroßgrundbesitzerInnen verkauften, weil sie Angst vor der Agrarrevolte hatten, die KleinbäuerInnen weil der Boden sie nicht mehr ernähren konnte.
Mit der sozialreaktionären Zersetzung der Mir begannen sich auch Genossenschaften als kleinbürgerlich-kollektive Formen der agrarischen Warenproduktion zu entwickeln. Diese Agrargenossenschaften wurden vollständig von den GroßbäuerInnen beherrscht. Auch die kleinbürgerliche Intelligenz der „sozialrevolutionären“ Partei, welche sich politisch und ideologisch auf die BäuerInnen stützte, konzentrierte ihre Hauptkraft auf diese Landwirtschaftskooperativen. Dadurch verlor die „sozialrevolutionäre“ Intelligenz ihre Radikalität und passte sich immer stärker den sich entwickelnden Agrarkapitalismus an. Die spätere konterrevolutionäre Rolle der „sozialrevolutionären“ Partei wurde durch diese Anbindung an die sich kapitalisierende Landwirtschaft vorbereitet.
Ein ökonomischer Ausdruck der begonnen Kapitalisierung der russischen Landwirtschaft war der Anstieg des Exportes russischer Agrarprodukte. Exportierte Russland 1908 Agrarprodukte im wert von 1 Milliarde Rubel, betrug dieser Wert im Jahre 1912 bereits 1,5 Milliarden. Dieser Anstieg war ein Ausdruck dafür, dass auch die russischen BäuerInnen im zunehmenden Maße für den kapitalistischen Weltmarkt produzierten.
Doch wie bereits weiter oben schon erwähnt, konnte auch die fortschreitende Kapitalisierung der Landwirtschaft – weil sie nicht mit einer Bodenreform, also der Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen verbunden war – die Agrarrevolte nicht ersticken. Sie erhob bereits 1908 wieder ihr Haupt und verstärkte sich in den folgenden Jahren. Im Kampf gegen den gutsbesitzenden Adel setzten die BäuerInnen häufig dessen Gehöfte, Ernte und Heu in Flammen. Auch die sich aus der Mir ausgesonderten FarmerInnen wurden nicht selten Opfer der bäuerlichen Agrarrevolte. Doch als Folge der beginnenden kapitalistischen Zersetzung der alten russischen Dorfgemeinschaft gab es zwischen 1906 und 1914 auch schon bewaffnete Konflikte bei der Aufteilung des Gemeindelandes zwischen den BäuerInnen. Doch auch dieser innerbäuerliche Konkurrenzkampf konnte die gesamtbäuerliche Agrarbewegung gegen den Großgrundbesitz nicht aufhalten.
Durch die Mobilisierung für den imperialistischen Krieg ab 1914 wurden der Agrarrevolte die aktivsten, gesündesten und kämpferischsten Kräfte entzogen. Sie wurden millionenfach in Uniform gesteckt und sollten für Zar, gutsbesitzenden Adel und Bourgeoisie töten und sterben. So wurde der BäuerInnenkrieg durch den imperialistischen Krieg bis 1917 unterbrochen. Doch auch innerhalb der Armee radikalisierten sich die bäuerlichen Soldaten unter dem Einfluss proletarisch-revolutionärer Kameraden weiter. Massenhafter Tod, die totalitäre Herrschaft der adligen und bürgerlichen Offiziere, welche sich auch in körperlicher Züchtigung der Soldaten äußerte, ließen die sozialen Gegensätze innerhalb der Armee, welche im Wesentlichen eine Bauernarmee war, ziemlich krass spürbar werden.
So ergab sich vor der Februarrevolution von 1917 folgende Situation: Die Krise des zaristischen Staates hatte sich im Verlauf des imperialistischen Krieges enorm zugespitzt. Das alte Russland war dem globalen Konkurrenzkampf der Nationalstaaten nicht gewachsen, weil die kapitalistische Modernisierung in den Jahren vor dem imperialistischen Gemetzel zu schwach war. Diese Krise ließ sich durch den Zarismus nicht mehr lösen, er musste hinweggefegt werden! Aber von wem? Von der russischen Bourgeoisie? Oder vom russischen Proletariat und/oder den russischen BäuerInnen?
Die sich aus der Krise des russischen Staates objektiv ergebende Zuspitzung der proletarischen Klassenkampfsubjektivität am Vorabend der Februarrevolution wurde vom damaligen sozialdemokratischen russischen Parteimarxismus nur ideologisch verzerrt widergespiegelt. Das war auch alles andere als ein Zufall.
Die internationale Sozialdemokratie war trotz ihrer teilweisen rrrevolutionären Phrasen eine kleinbürgerliche, aber keine proletarisch-revolutionäre Strömung. Ihre parteiförmigen Organisationen reproduzierten die bürgerliche Politik als Gestalterin der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Kapitalvermehrung. Mit politischen Parteien wird der Kapitalismus verwaltet, aber nicht revolutionär aufgehoben. Die hauptamtlichen ParteipolitikerInnen eignen sich in Form von Steuern, Mitgliedsbeiträgen und Parteispenden einen Teil des proletarisch produzierten Mehrwertes an. Dieser Mehrwert wird in kapitalistischen Unternehmen (sowohl Familienunternehmen als auch Aktiengesellschaften, bei Privateigentum an industriellen Produktionsmitteln genauso wie in Staatskonzernen) produziert. Indem BerufspolitikerInnen von KapitalistInnen und KapitalmanagerInnen Steuern einziehen, eignen sie sich indirekt den für das Privatkapital produzierten Mehrwert an. Wenn die bürgerlichen BerufspolitikerInnen als ManagerInnen des Staates den proletarisierten Menschen Lohnsteuern abknöpfen, lassen sie die letztgenannten direkt Mehrwert für sich produzieren. Indem die BerufspolitikerInnen als Charaktermasken des Staates auch den Konsum von KapitalistInnen und LohnarbeiterInnen besteuern, verwandeln sie einen Teil des Konsumtionsfonds der Bourgeoisie und des Proletariats in staatlich angeeigneten Mehrwert. Wobei natürlich zu beachten ist, dass der Konsumtionsfonds der Bourgeoisie nichts anderes als proletarisch produzierter und kapitalistisch angeeigneter Mehrwert darstellt. Einen Teil des politisch angeeigneten Mehrwertes geht für Staatszwecke drauf (Infrastruktur, Krieg führen und ein wenig Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik), während der andere Teil als Gehalt in den persönlichen Konsum der BerufspolitikerInnen geht
Auch die BerufspolitikerInnen von Oppositionsparteien – unter ihnen auch die sozialdemokratischen Parteien – eignen sich als deren ManagerInnen den kapitalistisch produzierten Mehrwert an. Zum Teil bekommen sie Steuergelder in Form von Parlamentsdiäten, teilweise eigen sie sich den Mehrwert in Form von Parteispenden und Mitgliedsbeiträgen an. Mitgliedsbeiträge und Parteispenden stellen wie im Falle der staatlichen Besteuerung des Konsums die politische Aneignung eines Teiles des Konsumtionsfonds der bürgerlichen und proletarischen Mitglieder/Sympathisanten der Partei und deren Verwandlung in Mehrwert dar. Heute sind sozialdemokratische Parteien fast überall auf der Welt als Interessenvertreterinnen der Bourgeoisie von dieser auch anerkannt. Damals, also vor der Februarrevolution von 1917 waren sie das weder vollständig in Deutschland noch im zaristischen Russland. Die sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen sowohl in Deutschland wie in Russland waren ManagerInnen von Oppositionsparteien und eigneten sich auf solche Weise einen Teil des Mehrwertes an. Diese sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen waren entweder kleinbürgerliche Intellektuelle oder ehemalige LohnarbeiterInnen. Bevor sie von der Bourgeoisie voll anerkannt wurden, also von ParteimanagerInnen zu StaatsmanagerInnen aufsteigen konnten, waren sozialdemokratische BerufspolitikerInnen kleinbürgerliche PolitikerInnen beziehungsweise kleinbürgerliche DemokratInnen.
Indem sie den kapitalistischen Inhalt der bürgerlichen Politik reproduzierten, übernahmen sie auch deren bürgerlich-bürokratische Form, der totalitären Herrschaft des BerufspolitikerInnentums über die lohnabhängige Partei- und Wählerbasis. In der Praxis waren die proletarisierten Menschen für die sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen nichts anderes als Stimmvieh, was brav sozialdemokratisch zu wählen, sie also zu ermächtigen hatte.
Sozialdemokratische PolitikerInnen waren sozial gesehen bürgerliche PolitikerInnen – und ihre Realpolitik konnte auch gar nicht anders sein als bürgerlich. Die Sozialdemokratie leistete in der Praxis wichtige Arbeit an der Reform des Kapitalismus, sowohl in der Sozialpolitik, als auch bei der Integration des Proletariats in eine reformierte Demokratie. In den frühen Demokratien wurden teilweise proletarisierte Menschen als WählerInnen benachteiligt. Das dies heute nicht mehr der Fall ist, verdanken wir auch der internationalen Sozialdemokratie. Doch dieses Wirken war grundsätzlich sozialreaktionär. Die Sozialdemokratie reformierte den kapitalistischen Feind des Proletariats mit Hilfe einer marxistisch-sozialistischen Ideologie.
Diese marxistische Ideologie war Selbstbetrug der Sozialdemokratie und sozialdemokratischer Betrug am Proletariat. Dies wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges deutlich, wo die meisten nationalen Sektionen der Sozialistischen Internationale, sich an die Seite des jeweiligen Nationalstaates und ihrer herrschenden kapitalistischen Klasse stellte. Auf diese Weise organisierte die internationale Sozialdemokratie das Massaker der Weltbourgeoisie am globalen Proletariat mit.
Sozialdemokratische IdeologInnen wurden entweder direkt von den Parteien der Zweiten Internationale bezahlt und/oder sie verkauften als freie AutorInnen ihre Ideologie auf den Zeitungs- und Büchermarkt. Auch einige sozialdemokratische IdeologInnen passten sich der bürgerlichen Praxis dieser politischen Strömung an und revidierten die marxistische Theorie. Das waren die so genannten „RevisonistInnen“ (in Deutschland Bernstein). Das sozialdemokratische Zentrum (in Deutschland Kautzky) verteidigte die marxistische Ideologie – auf dem Boden bürgerlicher Politik.
Der linke Flügel der Sozialdemokratie (Pannekoek, Luxemburg, Liebknecht, Lenin und Trotzki) hatte die ganze Zeit vor dem Ersten Weltkrieg versucht die Ideologie des sozialdemokratisierten Marxismus gegen die sozialdemokratische Wirklichkeit zu verteidigen. Er versuchte sein Ideal von der „proletarischen Partei“ in die Wirklichkeit umzusetzen, aber in der Praxis kann es nur bürgerliche Parteien geben – wie die Geschichte des Parteimarxismus in aller Deutlichkeit offenbarte. In den westeuropäischen Ländern wurde die Sozialdemokratie dann auch folgerichtig während des imperialistischen Krieges und der konterrevolutionären Niederschlagung der proletarischen Klassenkämpfe während und im Anschluss des Ersten Weltkrieges großbürgerlich. Der linke Flügel trennte sich von der Sozialdemokratie und ein großer Teil von ihm nahm als Partei-„Kommunismus“ an der kapitalistischen Sozialreaktion gegen das Proletariat teil – nur ein ganz kleiner Teil wirkte wirklich sozialrevolutionär. Die zuerst linkssozialdemokratischen und später partei-„kommunistischen“ PolitikerInnen, welche noch nicht die Staatsmacht durch eine politische Machteroberung übernommen hatten, bezeichnen wir als kleinbürgerliche Radikale im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen ReformistInnen, die danach strebten von der Bourgeoisie voll anerkannt zu werden.
Im zaristischen Russland konnte sich wegen des ultrarepressiven Staates das sozialdemokratische BerufspolitikerInnentum nicht auf parlamentarische Weise schleichend in den Staat integrieren wie in Westeuropa. Statt Parlamentssitze gab es für russische sozialdemokratische BerufspolitikerInnen Gefängnis, Verbannung und Emigration. Damit sich die russische Sozialdemokratie in den Parlamentarismus integrieren konnte, musste in Russland erst mal ein parlamentarisches Herrschaftssystem geschaffen werden. Das war aber mit der Herrschaft der zaristischen Monarchie, die eine Mischung aus europäischem Absolutismus und asiatischer Despotie darstellte, unvereinbar. Also trat der Großteil der russischen Sozialdemokratie erst mal für eine „bürgerliche Revolution“ ein – natürlich nur als Zwischenetappe auf dem Weg zum „Sozialismus“.
Der rechte Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Menschewiki, ging davon aus, dass die Führung in der „bürgerlichen Revolution“ selbstverständlich die liberale Bourgeoisie haben müsse, während der linke Flügel, die Bolschewiki, die Meinung vertrat, dass die liberale russische Bourgeoisie zu einer radikalen antifeudalen Revolution schon nicht mehr fähig sei. Diese bolschewistische Ansicht entsprach der Realität. Die mächtige Weltbourgeoisie – zu deren ohnmächtigen Teilen die russische gehörte – befand sich schon längst im Klassenkampf mit dem internationalen Proletariat. Als die radikalsten Fraktionen der englischen und französischen Bourgeoisie im 17. und 18. Jahrhundert die politische Macht eroberten um den Feudalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten gab es noch kein Industrieproletariat. Aber sowohl der Brite Cromwell als auch die französischen Jakobiner mussten als radikale Bourgeois auch repressiv gegen die damalige kleinbürgerlich-vorindustrieproletarische Massenbewegung vorgehen. In England waren das die Levellers und die Diggers und in Frankreich die Sansculotten. Die politischen Machteroberungen von Cromwell und den Jakobinern stellten also sowohl die Höhepunkte der antifeudalen Revolutionen als auch die Umschlagmomente in die bürgerlichen Konterrevolutionen dar. Diesen absolut konterrevolutionären Aspekt der politischen Machteroberung auch der radikalsten Fraktionen der Bourgeoisie ignorierte der Marxismus weitgehend in seinem Dogmengebäude von der „bürgerlichen Revolution“.
Bei einer erfolgreichen politischen Machteroberung der russischen Bourgeoisie, müsste sie es sowohl mit der zaristischen Reaktion als auch mit den BäuerInnen und dem jungen russischen Industrieproletariat aufnehmen. Der ganze Verlauf der russischen Revolution zeigte eindeutig, dass die russische Bourgeoise viel zu schwach dazu war. Und selbst wenn die russische Bourgeoisie ohne bolschewistische Machtübernahme mit den BäuerInnen und dem Proletariat fertig geworden wäre, eine demokratisch-parlamentarische Republik, in die die russische Sozialdemokratie sich hätte integrieren können, war menschewistische Tagträumerei. Wenn die russische Bourgeoisie die Macht erobert hätte, dann nur in Form einer Militärdiktatur. Auch dies bewies der gesamte Verlauf der russischen Revolution eindeutig.
Die Bolschewiki hatten also absolut Recht, als sie daran zweifelten, dass die liberale russische Bourgeoisie fähig dazu wäre, die politische Macht zu erobern. Doch hielten auch sie am Dogma der „bürgerlichen Revolution“ fest. Nur sollte die russische Revolution nicht von der liberalen Bourgeoisie sondern von den ArbeiterInnen und BäuerInnen geführt werden. Diese siegreiche Revolution sollte dann in der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und BäuerInnen“ münden, die den Feudalismus mit Stumpf und Stiel ausrotten sollte, aber noch keine „sozialistischen“ Maßnahmen ergreifen sollte.
Unter „sozialistischen“ Maßnahmen verstand der sozialdemokratisierte Parteimarxismus die Verstaatlichung der Produktionsmittel, die Errichtung eines „ArbeiterInnenstaates“. Doch ein Staat ist ein bürokratischer Machapparat, der von BerufspolitikerInnen gemanagt und geführt wird – und sich mindestens ein Teil des proletarisch produzierten Mehrwertes aneignen muss. Einen von ArbeiterInnen geführten Staat kann es in der Praxis nicht gegen. Nur BerufspolitikerInnen können einen Staat führen. Dieser Tatsache trugen natürlich auch die parteimarxistischen IdeologInnen Rechnung, indem in ihrem „ArbeiterInnenstaat“ nicht die ArbeiterInnen, sondern ihre Avantgarde, also die parteimarxistischen BerufspolitikerInnen regieren sollten. Diese BerufspolitkerInnen verfügen in einem solchen „ArbeiterInnenstaat“ auch praktisch über die verstaatlichten Produktionsmittel. Die ArbeiterInnen vermieten nicht mehr ihre Arbeitskraft den PrivatkapitalistInnen, sondern dem Staat, der jetzt das Proletariat ausbeutet und den gesamten Mehrwert aneignet. Der ideologische „ArbeiterInnenstaat“ ist also in der Praxis ein staatskapitalistisches Regime. Das wissen wir ganz genau, weil ein solches staatskapitalistisches Regime nach der politischen Machtübernahme der Bolschewiki in Sowjetrussland errichtet wurde.
Doch vor der Februarrevolution steuerten die Bolschewiki noch nicht ideologisch auf einen „ArbeiterInnenstaat“ und praktisch auf ein staatskapitalistisches Regime zu. Sie stellten sich vor der Februarrevolution ein Regime vor, das von „proletarischen“ und „bäuerlichen“ Parteien regiert würde und im Rahmen des Privatkapitalismus blieb. In der Praxis wären die regierenden „proletarischen“ und „bäuerlichen“ Parteien also das politische Personal der Bourgeoisie gewesen. So unterschied sich der Bolschewismus in Bezug auf Russland vor der Februarrevolution von 1917 ideologisch nur in Nuancen vom Menschewismus. Im Gegensatz zu Leo Trotzki, der damals weder den Menschewiki noch den Bolschewiki angehörte, sondern seine Theorie von der permanenten Revolution entwickelt hatte und direkt ideologisch auf den „ArbeiterInnenstaat“ und praktisch auf ein staatskapitalistisches Regime hinzielte. Trotzki entwickelte die Ideologie des sowjetischen Staatskapitalismus.
Trotzkis Ideologie von der permanenten Revolution ging davon aus, dass das russische Proletariat auf Grund der Schwäche der russischen Bourgeoisie und der Tiefe der sozialen Krise des Zarismus schon eher als das westliche Proletariat an die Macht gelangen könne. Nun, wenn wir „Proletariat“ mit kleinbürgerlich-radikale PolitikerInnen übersetzen, hatte Trotzki absolut Recht. Ja, in hoch entwickelten Industriestaaten ist die selbständige Machtübernahme des kleinbürgerlichen Radikalismus ausgeschlossen, denn ein staatskapitalistisches Regime welches dieser Machtübernahme folgen würde, wäre sofort mit dem konterrevolutionären Widerstand der Bourgeoisie und mit dem Klassenkampf des Proletariats konfrontiert worden. Auch der Bolschewismus wurde nach seiner politischen Machtübernahme – wie wir noch ausführlicher beschreiben werden – sofort sowohl mit der privatkapitalistischen Konterrevolution als auch mit dem proletarischen Klassenkampf konfrontiert. Der bolschewistische Staat konnte nur auf Grund der sozialen Schwäche sowohl der Bourgeoisie als auch des Proletariats in Sowjetrussland alle diese Kämpfe bis 1921 siegreich überstehen. In einem Industriestaat, wo Bourgeoisie und Proletariat die sozialen Hauptklassen sind, ist für die politische Machteroberung gegen Bourgeoisie und Proletariat kein sozialer Spielraum vorhanden. Der ostdeutsche Staatskapitalismus nach 1945 war nur durch den sowjetischen Imperialismus möglich.
Weiterhin ging Trotzkis Ideologie von der permanenten Revolution davon aus, dass das „Proletariat“ (also parteimarxistische BerufspolitikerInnen) nach der politischen Machtübernahme „sozialistische“ (also staatskapitalistische) Maßnahmen ergreifen müsse und das „russische Proletariat“ (also der russische Parteimarxismus) zur Avantgarde der Weltrevolution werden müsse. Nun ja, dass die russischen radikalmarxistischen BerufspolitikerInnen zum staatskapitalistischen Regime übergehen würden, dass hatte Trotzki richtig voraus gesehen, aber der russische Parteimarxismus konnte objektiv gar nicht zur Avantgarde der Weltrevolution werden. Aus zwei Gründen. Erstens sind die politische Machtübernahme des kleinbürgerlichen Radikalismus und die Errichtung eines staatskapitalistischen Regimes in Industriestaaten unmöglich und zweites ist die wirkliche soziale Revolution des Proletariats mit dem Parteimarxismus als kleinbürgerlich-radikaler Ideologieproduktion unvereinbar.
Trotzki schuf also nach 1905 die Ideologie des zukünftigen sowjetischen Staatskapitalismus. Doch das Werkzeug zur Verwirklichung dieser Ideologie schuf Lenin als führender bolschewistischer Berufspolitiker. Seine Auffassungen von strenger Parteidisziplin und der Herrschaft von „BerufsrevolutionärInnen“ (also BerufspolitikerInnen) waren so bürgerlich-ultrabürokratisch, dass Lenin von anderen kleinbürgerlich-radikalen IdeologInnen dafür stark kritisiert wurde – unter anderem auch von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki, bevor der letztere selbst zum Bolschewik wurde. Doch diese Kritik war von seinem Wesen her mehr kleinbürgerlich-demokratisch als proletarisch-revolutionär, weil sowohl Rosa Luxemburg wie auch der junge Trotzki weder die Partei als grundsätzlich bürgerlicher Organisationsform noch die Existenz des sozialdemokratischen BerufspolitikerInnentums in Frage stellten.
Aber der kleinbürgerliche Radikalismus konnte nur ultrabürokratisch politisch siegen. Damit der sowjetische Staatskapitalismus Wirklichkeit werden konnte, musste die bolschewistische Partei von der Ideologie her trotzkistisch und Trotzki praktisch zum Bolschewik werden. Der Bolschewismus war das praktische Werkzeug, durch den der sowjetische Staatskapitalismus Wirklichkeit wurde. Doch die zaristische Reaktion fügte diesem praktischen Werkzeug des kleinbürgerlichen Radikalismus schweren Schaden zu, indem sie die hauptamtliche Petrograder Parteiführung während des Ersten Weltkrieges repressiv zerschlug.
Aber die sozialdemokratischen Parteien (Menschewiki und Bolschewiki) und Zwischengruppen bestanden nicht nur aus kleinbürgerlichen BerufspolitikerInnen und IdeologInnen, sondern auch aus proletarischen Basen, in der nicht wenige subjektiv sozialrevolutionäre ArbeiterInnen wirkten. Sozialrevolutionäre ArbeiterInnen, die subjektiv zur sozialen Revolution strebten, aber objektiv mehr oder weniger stark von einem objektiv sozialreaktionären BerufspolitikerInnentum beherrscht wurden.
Diese subjektiv sozialrevolutionären marxistischen ArbeiterInnen wirkten auch sonst unter objektiven Voraussetzungen, welche eine wirkliche soziale Revolution in Russland unmöglich machten. Denn die wirkliche soziale Revolution konnte und kann nur in der Aufhebung von Politik und Warenproduktion durch das Proletariat – was sich dadurch auch selbst aufhebt – bestehen. Doch das Proletariat verkörperte in Russland eine soziale Minderheit. Die Bevölkerungsmehrheit bestand aus BäuerInnen, die nach der Enteignung des Großgrundbesitzes und zum privaten Kleineigentum am Boden strebten. Dieses private Kleineigentum war jedoch die soziale Basis für kleinbürgerliche/kapitalistische Warenproduktion – und damit auch für einen bürgerlichen Staat. Der russische und internationale radikale Parteimarxismus hat im Wesentlichen den kleinbürgerlichen Charakter der Agrarbewegung in Russland klar erkannt. Während der Parteimarxismus den letztendlich sozialreaktionären Charakter des ökonomischen KleinbürgerInnentums mehr oder weniger klar erkannte, reproduzierte es das politische KleinbürgerInnentum in Form einer marxistischen Parteibürokratie.
Die soziale Revolution war also in Russland wegen der Stärke des ökonomischen (BäuerInnen) und politischen (BerufspolitikerInnen) KleinbürgerInnentums objektiv nicht möglich – trotz der Schwäche von Bourgeoisie, Adel und der zaristischen Bürokratie. Doch wahre sozialrevolutionäre Subjektivität entfaltet sich auch unter den schlechtesten objektiven Bedingungen! Sie kämpft und verliert heroisch! Und diese Niederlagen sind nicht umsonst, denn aus ihnen können spätere Generationen von proletarischen RevolutionärInnen viel lernen, um unter besseren objektiven Bedingungen vielleicht irgendwann zu siegen!
Diese sozialrevolutionäre Subjektivität, welche objektiv nur heroisch verlieren kann, verkörperte in der russischen Revolution keine andere Strömung so stark wie der Anarchismus. Denn um heroisch verlieren zu können, musste an den Sieg geglaubt werden. Aber an den Sieg glauben, ging im damaligen Russland nur bei einem stark sozialromantisch ausgeprägten Subjektivismus, der sich um die objektiven Bedingungen seiner Verwirklichung nicht viel kümmert. Genau das machte und macht den Anarchismus ideologisch aus, stellte und stellt seine theoretische Schwäche dar. Aber gerade diese ideologische Schwächte machte den russischen Anarchismus zur ideologisch vollkommensten Verkörperung einer sozialrevolutionären Subjektivität, welche nicht siegen, sondern nur heroisch verlieren konnte.
Aber auch der russische Anarchismus hatte seine progressiven und reaktionären Tendenzen. Seine progressivste Tendenz war sein antipolitischer Instinkt. Doch der anarchistischen Antipolitik fehlte es oft an theoretischer Schärfe und an Konsequenz. Außerdem war der russische Anarchismus recht unkritisch gegenüber den kleinbürgerlichen Tendenzen der russischen BäuerInnenschaft, welche nach kleinem Privateigentum strebte und einer wirklichen klassenlosen Gesellschaft fremd gegenüber stand, wenn sie sich auch teilweise ideologisch vom Anarchismus inspirieren ließ. Doch die ideologische Aufnahme des Anarchismus durch einen Teil der kleinbäuerlich-landproletarischen Agrarbewegung machte nicht die BäuerInnen sozialrevolutionär, sondern den Anarchismus kleinbürgerlich (siehe dazu das Kapitel Sowjetrussischer Imperialismus in der Ukraine in unserem Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)).
Seine rückständigste Tendenz war die ideologische Verklärung des kleinbürgerlichen Individualismus, welcher mit dem kollektiven Befreiungskampf des Proletariats unvereinbar ist. Die kleinbürgerlichen anarchistischen Intellektuellen verklärten sowohl ihren eigenen Individualismus hinter unaufhörlichem Geschwätz von der Freiheit der Persönlichkeit –ihrer eigenen natürlich –als auch den Individualismus der BäuerInnen. Doch dieser typische anarchistische Individualismus prägte auch das Bewusstsein von sozialrevolutionären ArbeiterInnen, die – wenn sie meinten, es müsse sein – auch allein den Kampf gegen diese ganze verdammte Welt aufnahmen.
Die subjektiv bewussten sozialrevolutionären ArbeiterInnen im zaristischen Russland waren also objektiv der proletarische Schwanz des marxistischen und anarchistischen kleinbürgerlichen Radikalismus. Es müssen über vier Jahre der Russischen Revolution vergehen, bis die fortgeschrittensten und bewusstesten ArbeiterInnen in Form des Kronstädter Aufstandes die Vormundschaft des Bolschewismus – der sich zu dieser Zeit schon zu einer staatskapitalistisch-sozialreaktionären Kraft entwickelt hatte – innerlich abschütteln konnten (siehe dazu das Kapitel Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus). Doch der Kronstädter Aufstand musste scheitern, weil die revolutionäre Selbstaufhebung des russischen Proletariats isoliert vom Weltproletariat in dem damaligen rückständigen Agrarland objektiv nicht möglich war. Doch subjektiv war das russische Proletariat verdammt reif. Es machte eine außerordentlich gute Schulung des praktischen Klassenkampfes durch.
Einer der subjektiv sozialrevolutionären ArbeiterInnen, der im zaristischen Russland die praktische Schule des Klassenkampfes durchmachte, war der spätere Aktivist und noch spätere Historiker der Machno-Bewegung (siehe zu dieser das Kapitel Sowjetrussischer Imperialismus in der Ukraine im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg [1918-1921]), Peter Andrejewitsch Arschinoff. Lassen wir uns in seine klassenkämpferische Biographie von den russischen Anarchisten Volin einführen:
„Peter Andrejewitsch Arschinoff, (…), ist der Sohn eines Fabrikarbeiters aus Jekaterinoslaw und ist selber Arbeiter, Schlosser von Beruf, der sich durch eisernen Fleiß eine gewisse Bildung angeeignet hat. Er war 17 Jahre alt, als er sich 1904 der Revolutionsbewegung anschloss. 1905 arbeitet er als Schlosser der Eisenbahnwerkstätten in Kisil-Arwat (Mittel-Asien) und schließt sich der Ortsorganisation der Bolschewiki-Partei an. Bald tritt er aktiv in ihr hervor und zwar als einer der Führer und Redakteure des illegalen revolutionären Arbeiterorgans ,Molot‘ (Hammer). Dieses Blatt versorgte die ganze mittel-asiatische Bahnlinie und war für die revolutionäre Bewegung der Bahnarbeiter von großer Bedeutung. Da Arschinoff von der Ortspolizei verfolgt wird, verlässt er im Jahre 1906 Mittel-Asien und begibt sich in die Ukraine nach Jekaterinoslaw. Hier wird er Anarchist und setzt nunmehr als solcher seine revolutionäre Tätigkeit unter den jekaterinoslawschen Arbeitern fort (vorwiegend in den Schodouar-Werken). Der Grund für den Übergang zum Anarchismus war der Minimalismus der Bolschewiki (Anmerkung von Nelke: die „demokratische Diktatur der ArbeiterInnen und BäuerInnen“, die nichts mit dem „Sozialismus“ zu tun haben sollte), der nach Arschinoffs Überzeugung den tatsächlichen Bestrebungen der Arbeiter nicht entsprach und samt dem Minimalismus der übrigen politischen Parteien die Niederlage der Revolution 1905/6 verursacht hatte. Im Anarchismus fand Arschinoff, nach seinen eigenen Worten, das sammelnde Moment, die Prägung gleicher, freiheitlicher Bestrebungen und Hoffnungen der Werktätigen.
Als die zaristische Regierung in den Jahren 1906 bis 1907 ein Netz von Feldgerichten über ganz Russland gebreitet hatte, war eine groß angelegte Arbeit innerhalb der Massen völlig unmöglich geworden. Arschinoff entrichtet den außergewöhnlichen Umständen und seinem Kämpfertemperament den Tribut: Mal um Mal begeht er einige terroristische Akte. (Anmerkung von Nelke: Der individuelle Terror erzeugt logischerweise bei den Terroristen – und seien es auch proletarische AktivistInnen wie Arschinoff – starke avantgardistische Tendenzen, denn die TerroristInnen handeln im Namen des Proletariats, während das Proletariat selbst nicht aktiv in den Kampf tritt. Das gilt besonders nach der Niederlage der Revolution von 1905. Dieser Avantgardismus war Teil der Sozialpsychologie auch von nicht wenigen AnarchistInnen –einschließlich von Arschinoff. Wobei natürlich auch der Fakt berücksichtigt werden muss, dass durch den Gegenterror des proletarischen Aktivisten Arschinoff der kapitalistischen und zaristischen Reaktion keine Ruhepause gelassen wurde. Auch möchten wir hier ganz klar betonen, dass die terroristischen Aktionen des militanten Klassenkämpfers Arschinoff mit denen der kleinbürgerlichen Intellektuellen der RAF nicht viele Gemeinsamkeiten hatten.)
Am 23. Dezember 1906 sprengt er zusammen mit einigen Genossen das Polizeirevier in der Arbeitersiedlung Amur bei Jekaterinoslaw. (Bei der Explosion kamen drei Kosakenoffiziere, Polizeioffiziere und Wachmannschaften der Strafexpeditionsabteilung ums Leben.) Dank der sorgfältigen Vorbereitung dieses Aktes wurden weder Arschinoff noch seine Genossen von der Polizei gefasst. Am 7. März erschießt Arschinoff den Chef der Haupteisenbahnwerkstätten in Alexandrowsk, Wassilenko mit Namen. Des letzteren Schuld vor der Arbeiterklasse hatte darin bestanden, dass er für den bewaffneten Aufstand in Alexandrowsk im Dezember 1905 an die hundert Arbeiter vor das Kriegsgericht stellen ließ, von denen viele, auf Grund der Angaben Wassilenkos zu langfristigen Zwangsarbeiten oder zum Tod verurteilt worden waren. Außerdem hatte sich Wassilenko vor und nach diesem Fall als rühriger und erbarmungsloser Unterdrücker der Arbeiter gezeigt. Aus eigenem Antrieb, doch entsprechend der allgemeinen Stimmung der Arbeitermassen hatte Arschinoff mit diesem Feind der Werktätigen abgerechnet, als er ihn in der Nähe der Werkstätten vor den Augen von zahlreichen Arbeitern niederschoss. (Anmerkung von Nelke: Diesen letzten Satz Volins sollte mensch ganz genau lesen. Weil in ihm die avantgardistische Tendenz des individuellen Terrors auch proletarischer AktivistInnen zum Ausdruck kommt. Arschinoff handelte in „Übereinstimmung mit der allgemeinen Stimmung der Arbeitermassen“, aber nicht als bewaffnetes Individuum innerhalb eines bewaffneten Kollektivs. Genau diese feine Nuance macht den Unterschied zwischen individuellen Terror und dem bewaffneten kollektiven Klassenkampf des Proletariats aus. Wir lehnen die proletarisch-individuelle bewaffnete Tat als Teil des Klassenkampfes nicht grundsätzlich ab, betonen aber die latente Gefahr einer avantgardistischen Tendenz bei den individuell tätigen proletarischen AktivistInnen, die bei der konkreten Person Arschinoff klar zum Ausdruck kam. Auch kann bei einigen passiven ArbeiterInnen das Bewusstsein entstehen, dass sie selbst nicht aktiv werden müssen, da einige andere bewaffnete AktivistInnen den Kampf schon irgendwie gewinnen könnten.) Bei der Ausführung dieses Aktes wurde Arschinoff von der Polizei ergriffen, grausam geschlagen und nach zwei Tagen vom Feldgericht zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch gerade in dem Augenblick, da das Urteil vollstreckt werden sollte, wurde es hinausgeschoben, da man der Meinung war, Arschinoffs Angelegenheit gehöre laut Gesetz nicht vor das Feldgericht, sondern vor das Militärbezirksgericht. Dieser Aufschub der Hinrichtung verschaffte Arschinoff die Möglichkeit zu fliehen. Die Flucht aus dem Alexandrowsker Gefängnis gelang in der Nacht zum 22. April 1907, während der Osterfrühmesse, als man die Gefangenen in die Gefängniskirche führte. Einige in Freiheit befindliche Genossen veranstalteten einen kühnen Überfall: Die Gefängniswächter, die die Gefangenen in der Kirche zu überwachen hatten, wurden über den Haufen gerannt und zusammengehauen. Allen Gefangenen wurde die Möglichkeit gegeben zu fliehen. Zusammen mit Arschinoff flüchteten damals über 15 Mann. Hierauf verbringt Arschinoff etwa zwei Jahre im Ausland, vorwiegend in Frankreich, kehrt aber 1909 wieder nach Russland zurück, wo er unter illegalen Verhältnissen anderthalb Jahre hindurch anarchistische Propaganda unter den Arbeitern treibt und auch organisatorisch tätig ist.
(Anmerkung von Nelke: Der letzte Satz zeigt, dass auch der Anarchismus nicht frei von Avantgardismus war und ist. Nach unserer Ansicht sollten sich jedoch die proletarischen und kleinbürgerlichen Mitglieder sozialrevolutionärer Gruppen vom ganzen Sprachgebrauch des kleinbürgerlichen Radikalismus trennen. Mitglieder sozialrevolutionärer Gruppen tauschen sich mit proletarisierten Menschen aus, reden mit ihnen und versuchen in der Kommunikation Impulse zu geben und welche zu empfangen. Sozialrevolutionäre AktivistInnen sollten also unserer Meinung nach in eine interaktive Kommunikation von Subjekt zu Subjekt mit den proletarisierten Menschen treten –aber nicht „agitieren“ und „Propaganda betreiben“. Denn der Agitierende ist das Subjekt während die ProletarierInnen als agitierte Masse die Objekte der Ideologieproduktion sind. Das ist keine übertriebene Sprachkritik. Als MaterialistInnen gehen wir davon aus, dass in der Sprache gesellschaftliche Verhältnisse zum Ausdruck kommen. In den Worthülsen marxistischer und anarchistischer Polit/Ideologiegruppen, wie „anarchistische (marxistische) Propaganda unter den Arbeitern treiben“ kommt sowohl der anarchistische als auch der marxistische Avantgardismus zum Ausdruck. Der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus sollte sowohl diese alten Worthülsen als auch die dahinter stehende Praxis des kleinbürgerlichen Radikalismus überwinden.)
Im Jahre 1910 wird er von der österreichischen Regierung dabei ertappt, wie er einen Waffentransport und anarchistische Literatur aus Österreich nach Russland schaffen will, er wird verhaftet und im Gefängnis Tarnopol untergebracht. Hier verbringt er ein Jahr, wird dann auf Forderung der russischen Regierung hin für begangene terroristische Akte den russischen Behörden in Moskau ausgeliefert und vom Moskauer Obersten Gerichtstribunal zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Seine Strafe verbüßte Arschinoff im Butyrki-Gefängnis in Moskau. Hier traf er erstmalig (1911) mit dem jugendlichen Nestor Machno zusammen, der ebenfalls für terroristische Akte im Jahr 1910 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war, und der von Arschinoffs Arbeit im Süden bereits früher gehört hatte, als er ihn noch gar nicht kannte. Ihre Beziehungen im Verlauf des gemeinsamen Aufenthaltes im Gefängnis waren kameradschaftlicher Natur; beide kamen nach Ausbruch der Revolution in den ersten Märztagen 1917 frei.“ (Vorwort von Volin zu: Peter A. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung, UNRAST-Verlag, Münster 1998, S. 15-17.)
Kommen wir nun zur Februarrevolution 1917, welche auch die Kerkertüren des militanten Klassenkämpfers Arschinoff sprengte.

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