Der ArbeiterInnenaufstand von 1956

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Der ArbeiterInnenaufstand von 1956

Bis 1953 war auch der ungarische Staatskapitalismus durch ultrarepressiven stalinistischen Terror geprägt, welchem auch Angehörige der herrschenden Partei- und Staatsbürokratie zum Opfer fielen. Das Proletariat wurde durch den Kurs der forcierten Industrialisierung und das Primat auf die Entwicklung der Schwerindustrie extrem durch Überarbeit und Unterkonsum ausgebeutet. Der „ungarische Stalin“, also die oberste regierende Charaktermaske des Partei- und Staatsapparates, war bis 1953 Matyas Rakosi. Danach war auf der Basis der Reproduktion der staatskapitalistischen Produktionsverhältnisse auch in Ungarn eine gewisse „Entstalinisierung“ angesagt. Der „Reformer“ Imre Nagy wurde im Juli 1953 Ministerpräsident Ungarns. Der Kollektivierung der Landwirtschaft wurde die ultrarepressive Spitze genommen, die Internierungslager wurden geschlossen, auch sonst wurde der stalinistische Terror entschärft und die totale Bevorzugung der Schwerindustrie wurde gelockert. Doch der Stalinist Rakosi, der Parteichef blieb, ging am 1. Dezember im Politbüro zum Gegenangriff gegen Nagy über. Am 14. April 1955 musste Letzterer auf Druck des stalinistischen Apparates alle Ämter aufgeben. Doch Rakosi konnte sich ebenfalls nicht mehr lange halten. Er fiel im Jul 1956 einer Entstalinisierung zum Opfer und wurde durch Ernö Gerö ersetzt.
Doch der 1955 entmachtete Ministerpräsident wurde durch eine parteiinterne intellektuelle Opposition unterstützt. Ausdruck dieser intellektuellen Parteiopposition war der 1955 gegründete Petöfi-Kreis. Dessen Ideologie-Produktion war eine krude Mischung aus Marxismus-Leninismus und kleinbürgerlich-demokratischen Phrasen. Doch der Petöfi-Kreis wurde im Oktober 1956 zur geistigen Initialzündung zur Entstehung einer kleinbürgerlich-demokratischen Studierendenbewegung, deren organisatorischer Ausdruck der am 16. Oktober gegründete Freie Studentenverband MEFESZ wurde. Die Studierendenbeweg organisierte auch die Budapester Demonstration vom 23. Oktober 1956, bei der das Stalin-Denkmal zerstört wurde und es zu bewaffneten Kämpfen zwischen Demonstrierenden und der Geheimpolizei A.V.O vor dem Rundfunkgebäude kam. Die staatskapitalistische Sozialreaktion konnte nicht mehr mit Gerö an der Spitze erfolgreich den Klassenkampf von oben gegen das Proletariat führen, was ab dem 23. Oktober das Gravitationszentrum der sich entwickelnden Revolution wurde. Am 24. Oktober wurde Nagy abermals zum Ministerpräsident Ungarns ernannt. Dessen Regime lavierte zwischen der staatskapitalistischen beziehungsweise sich formierenden privatkapitalistischen Sozialreaktion einerseits und dem klassenkämpferischen Proletariat andererseits.
Das führte trotz großer Illusionen in das Nagy-Regime seinen eigenen Kampf. Ab dem 24. Oktober bildeten sich überall im Land ArbeiterInnenräte, welche oftmals das alte Management in den Betrieben davonjagte. Das Nagy-Regime erklärte am selben Tag das Standrecht. Das Proletariat antwortete mit dem Generalstreik. Am 25. Oktober kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Armee in Ungarn. Einige sowjetische Soldaten liefen zum klassenkämpferischen Proletariat über. Lediglich die ungarische Geheimpolizei A.V.O. kämpfte an der Seite des sowjetischen Imperialismus und verrichtete blutige Massaker an der aufständischen Bevölkerung, welche wiederum teilweise zur Lynchjustiz gegen die verhasste Geheimpolizei überging. Den bewaffneten Kampf gegen A.V.O. und sowjetischen Imperialismus führten vor allem das hart ausgebeutete Jungproletariat.
In der Ungarischen Revolution von 1956 wurde wieder das Dilemma von spontan im Klassenkampf entstandenen Organen der proletarischen Selbstorganisation deutlich, die zwar oft instinktiv das im Klassenkampf notwendige taten, während gleichzeitig in den Köpfen der kämpfenden ProletarierInnen noch massenhaft bürgerliche Ideologie reproduziert wurde. So übernahmen die ArbeiterInnenräte spontan massenhaft die Produktionsmittel in ihre kollektive Verfügungsgewalt. Das war richtig, doch zur sozialen Emanzipation des Proeltariats von Ausbeutung und Unterdrückung reichte Spontaneität und Klasseninstinkt nicht aus. Zur Weiterführung der sozialen Revolution, also zur Zerschlagung des Staatskapitalismus und zur Schaffung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft wäre ein Höchstmaß an sozialrevolutionärem Bewusstsein nötig gewesen. In der Normalität der Klassengesellschaft reproduzieren die meisten ArbeiterInnen die Politik, das heißt, sie akzeptieren, dass es BerufspolitikerInnen gibt, welche in ihrem Namen regieren. In einer Demokratie ermächtigen die ArbeiterInnen als Stimmvieh die sie regierenden PolitikerInnen. Im ungarischen Staatskapitalismus gab es keine freien Wahlen und kein pluralistisches Mehrparteiensystem, über die die kapitalistische Ausbeutung im Privatkapitalismus politisch organisiert wird. Es gab eine brutale „kommunistische“ Einparteiendiktatur, welche die staatskapitalistische Ausbeutung des Proletariats organisierte. Die primitive Machtausübung im Staatskapitalismus ließen im Proletariat demokratische Illusionen in freie Wahlen und Mehrparteiensystem entstehen, obwohl sie doch in Form der ArbeiterInnenräte das potenzielle Mittel in den Händen hielten, sich ein selbstbestimmtes Leben in einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft aufzubauen – ohne BerufspolitikerInnen! Diese demokratische Illusionen machte sich Imre Nagy zu Nutze, indem er am 3. November 1956 von der „kommunistischen“ Parteidiktatur zur demokratischen Mehrparteienkabinett, bestehend aus der transformierten staatskapitalistischen Herrschaftspartei, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der Partei der kleinen Landwirte und der Sozialdemokratie, überging. Das Proletariat Ungarns hegte große Illusionen in das Nagy-Regime.
Allerdings traten während der Revolution von 1956 viele ArbeiterInnen und Jugendliche subjektiv gegen die Reprivatisierung des Kapitals auf, der sie aber objektiv durch ihre demokratischen und nationalen Illusionen Vorschub gaben. So erklärten die Revolutionsräte des Komitats Borsod-Abauj-Zemplen: „Wir weisen jeden Restaurationsversuch zurück, der auf die Wiederherstellung der Herrschaft der Großgrundbesitzer, der Fabrikanten und Bankiers abzielt.“ Der Schriftsteller Laszlo Nemeth erklärte am 1. November 1956: „Wir müssen auf der Hut sein, das, während das Volk, das zu den Waffen gegriffen hat, seine volle Aufmerksamkeit auf den Abzug der sowjetischen Truppen richtet, die neuen Postenjäger (…) aus der Revolution keine Konterrevolution machen und den ungarischen Freiheitskampf des Jahres 1956 nicht auf den Kurs von 1920 bringen.“ (Zitiert nach György Litvan, Janos M. Bak (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956. Reform –Aufstand –Vergeltung, Passagen Verlag, Wien 1994, S. 112.) Der Intellektuelle brachte ideologisch entfremdet das zum Ausdruck, was viele ArbeiterInnen dachten oder instinktiv fühlten. Der „Kurs von 1920“ war der konterrevolutionäre Terror des Horthy-Regimes, den wir weiter oben beschrieben haben. „Die neuen Postenjäger“ waren die PolitikerInnen des sich während der Revolution von 1956 herausbildenden demokratischen Mehrparteiensystems.
Selbst die ungarischen demokratischen Antikommunisten György Litvan und Janos M. Bak mussten in ihrem Buch Die Ungarische Revolution 1956 zugeben, dass damals keine soziale und politische Kraft offen die Privatisierung des Kapitals verlangten, was für diese Herren natürlich die einzige Alternative zum Staatskapitalismus war und ist. Sie versuchten sich das zu erklären, dass ihre stramm antikommunistische Linie damals nicht massenwirksam vertreten wurde: „Man darf auch die alten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Traditionen, die mit der Zerschlagung der Organisationen 1948 nicht in Vergessenheit geraten waren, nicht unterschätzen. Obwohl die Sozialdemokratische Partei 1956 verhältnismäßig spät auf der politischen Bühne erschien und – aus verständlichen Gründen – sehr zurückhaltend agierte, waren alte Gewerkschaftsmitglieder in den Arbeiterräten zahlreich vertreten, die die Idee des Sozialismus nicht erst in ihrer pervertierten Form kennengelernt und die traditionellen Werte wie Arbeitersolidarität, Gewerkschaftsorganisation, Kampf gegen Ausbeutung und Großkapital auch in den Jahren der Unterdrückung der freien Gewerkschaften noch keineswegs vergessen hatten.
Viele der aktiven Teilnehmer der Revolution auch außerhalb der Arbeiterschaft waren durch diese Tradition motiviert, um für eine freie sozialistische Gesellschaft, für den – wie man glaubte – ,wahren‘ Sozialismus einzutreten. Obwohl man sicher annehmen kann, dass dies nicht dem Ideal der gesamten Bevölkerung entsprach, war für die Situation 1956 doch charakteristisch, dass es keine ernstzunehmenden Kräfte oder Persönlichkeiten gab, die für die Alternative, welche heute als die einzig mögliche erscheint, also für das kapitalistische Wirtschaftssystem mit uneingeschränkter Marktwirtschaft und umfassender Privatisierung, eingetreten wären. Freilich wäre es ein eitles Unterfangen, darüber zu spekulieren, wie bald nach einem Sieg der Revolution ganz neue und möglicherweise viel mehr traditionelle, bürgerliche Programme auf die Tagesordnung gesetzt worden wären. Die ,vorkommunistische‘ Zeit von 1945-1948, oder gar vor 1944 war ja noch gar nicht so weit in die Vergangenheit gerückt, als das die damalige politischen und wirtschaftlichen Modelle nicht wohl bekannt und –mutatis mutandis –wünschenswert hätten erscheinen können.“ (Ebenda, S. 115.)
Dass die ungarischen AntikommunistInnen das ultrareaktionäre Horthy-Regime, dessen brutalen Klassenkampf gegen das Proletariat wir in diesem Text schilderten, idealisierten, wundert nicht. Jeder klassenbewusste Proletarier und jede klassenbewusste Proletarierin konnte nur gegen die Restauration der privatkapitalistischen Verhältnisse sein. Genau vor solchen Leuten wie György Litvan und Janos M. Bak haben damals 1956 die ArbeiterInnenräte gewarnt. Und heute, nach dem Sieg der privatkapitalistischen Sozialreaktion in Ungarn, schreiben solche Leute Bücher, welche die Revolution von 1956 hochleben lassen!
Mensch darf aber auch nicht den Fehler machen, das Bewusstsein des ungarischen Proletariats während der Revolution von 1956 zu idealisieren. Weiter oben haben wir schon dargestellt, dass den ArbeiterInnenräten eine bewusste sozialrevolutionäre Perspektive fehlte und ohne eine solche das klassenkämpferische Proletariat nur der Bauer im Schachspiel der rivalisierenden Kapitalfraktionen sein kann. Hätte die Sowjetarmee nicht die Revolution von 1956 in Blut ertränkt, wären mit Sicherheit das Nagy-Regime und die Sozialdemokratie zum trojanischen Pferd der Reprivatisierung des Kapitals geworden. Staatstragende Politik kann im Zeitalter des Kapitalismus nur kapitalistisch sein, weil die PolitikerInnen als Charaktermasken der Politik von der direkten Aneignung des proletarisch produzierten Mehrwertes durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel oder durch die indirekte Aneignung des privatkapitalistisch produzierten Mehrwertes in Form von Steuern, Gebühren und den Verkauf von Staatsanleihen auf den Finanzmärkten leben. Politik kann das Kapitalverhältnis nicht aufheben, weil sie direkt oder indirekt von ihm lebt. Die Sozialdemokratie ist grundsätzlich proprivatkapitalistisch. Nur während der revolutionären Nachkriegskrise in Ungarn hat sie sich kurzzeitig für eine staatskapitalistische Wende entschieden. Dann war sie weder proprivatkapitalistisch –um dann vom staatskapitalistischen Partei-„Kommunismus“ geschluckt zu werden. Die sich 1956 neubildende Sozialdemokratie bildete sich während einer Krise des Staatskapitalismus, sie hätte also mit großer Wahrscheinlichkeit wieder eine proprivatkapitalistische Politik betrieben.
Auch das Nagy-Regime war aus heutiger Sicht auf dem Weg zum Privatkapitalismus. So trat es am 1. November aus Protest gegen sowjetische Panzertruppenbewegungen gegen Ungarn in Rumänien und der Sowjet-Ukraine ab dem 31. Oktober aus dem Militärbündnis der osteuropäischen staatskapitalistischen Regimes, dem Warschauer Pakt, aus. Das Regime ließ Ungarn für „neutral“ erklären und ersuchte die UNO zur Anerkennung der Neutralität. Doch in der internationalen Politik, diesem Gewaltverhältnis und hierarchischer Rangordnung der Nationalstaaten kann es keine wirkliche Neutralität geben. Die UNO, dieses hierarchische Schiedsgericht der Nationalstaaten um Hilfe anzubetteln, hieß in Wirklichkeit sich bei den privatkapitalistischen Nationen Lieb Kind zu machen. Zwar setzte Nagy auch seine Hoffnungen in das staatskapitalistische Tito-Regime Jugoslawiens. Doch nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito im Jahre 1948, kam es unter Chruschtschow wieder zu einer gewissen Annäherung zwischen den beiden staatskapitalistischen Ländern. Nach György Litvan und Janos M. Bak gab Tito Chruschtschow insgeheim Grünes Licht für die sowjetische Invasion in Ungarn, da ein Mehrparteiensystem für ihn unannehmbar war. (Ebenda, S. 101/102.) Wäre die sowjetische Invasion nicht erfolgt, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer außenpolitischen Annäherung des Nagy-Regimes an den privatkapitalistischen Westen gekommen. Auch innenpolitisch war die Hinwendung zur westlichen Mehrparteien-Demokratie eine Hinwendung zur politischen Herrschaftsform des Privatkapitalismus. Doch Privatkapitalismus und parlamentarische Demokratie reproduzieren sich gegenseitig.
Nur das Proletariat kann Kapitalismus und bürgerliche Politik revolutionär aufheben. Dazu muss es sich jedoch zu einem hohen antikapitalistischen, antipolitischen und antinationalen Bewusstsein hin kämpfen. Sozialrevolutionäre Gruppen, die nicht parteimäßig organisiert sein dürfen, weil sie sonst die bürgerliche Politik reproduzieren, müssen die praktischen Erfahrungen des Proletariats mit der Politik als struktureller Klassenfeindin des Proletariats verallgemeinern und zu einem klaren antipolitischen Bewusstsein verdichten. Diese sozialrevolutionäre Antipolitik verschmelzt in sich die materialistische Analyse der Politik mit den antipolitischen Instinkten des Proletariats. Proletarische RevolutionärInnen betreiben keine „Agitation“ und „Propaganda“ im Proletariat, wie die kleinbürgerliche politische Linke, sondern diskutieren mit ihren KollegInnen, um so zur Radikalisierung ihres Bewusstseins beizutragen. Auch wirkliche sozialrevolutionäre Intellektuelle haben mit der leninistischen Ideologie gebrochen, dass sie die revolutionäre Theorie von außen in das Proletariat hineinzutragen haben. Träger der sozialen Revolution sind die proletarischen RevolutionärInnen. Kern der sozialrevolutionären Antipolitik ist die Zerschlagung des Staates und die Aufhebung der Politik durch die Diktatur des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats kann nichts anderes sein als die militante Form des selbstorganisierten proletarischen Klassenkampfes. Die Organe der proletarischen Selbstorganisation, im konkreten Fall der Ungarischen Revolution von 1956 die ArbeiterInnenräte, hätten bewusst auch die „neue“ Politik, die bewusst oder unbewusst nach der Privatisierung des Kapitals strebte, aufheben müssen. Doch Aufhebung der Politik ist nur als Aufhebung des Kapitalismus und Selbstaufhebung des Proletariats möglich. Die Organe der proletarischen Selbstorganisation müssen die Produktionsmittel in ihre kollektiven Verfügungsgewalt nehmen, den Staat zerschlagen und die kapitalistische und kleinbürgerliche Warenproduktion aufheben. Die Revolution beginnt in einem oder mehreren Ländern, muss aber, wenn sie siegreich sein will, zur Weltrevolution werden.
In Ungarn 1956 gab es ArbeiterInnenräte als Organe der proletarischen Selbstorganisation im Klassenkampf, die sich auch schon instinktiv der Produktionsmittel kollektiv bemächtigten. Diese ArbeiterInnenräte bekannten sich auch mehrheitlich gegen eine Privatisierung des Kapitals –aber sie hatten keine klare Perspektive zur revolutionären Zerschlagung des Staatskapitalismus und zur Schaffung einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft. Und es fehlte eine bewusste sozialrevolutionäre Strömung in Ungarn, welche die praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes theoretisch verallgemeinerte und die materialistische Analyse mit dem proletarischen Klassenkampfinstinkt zu einem klaren sozialrevolutionären Bewusstsein verschmolz und scharf gegen alle groß- und kleinbürgerlichen Ideologien auftrat. Eine bewusste sozialrevolutionäre Kraft, welche für diese klare Kampfperspektive innerhalb der ArbeiterInnenräte und des kämpfenden Proletariats eingetreten wäre. Das Fehlen einer solchen, im Proletariat verankerten bewusst sozialrevolutionären Strömung, machte sich während der Revolution von 1956 tragisch bemerkbar. Das Proletariat Ungarns reproduzierte während der Revolution von 1956 noch massenhaft bürgerliche Ideologie. Die gefährlichsten waren Demokratie und Nationalismus. Doch das Proletariat kann sich nur von Ausbeutung und Elend befreien, indem es den Nationalstaat zerschlägt und alle PolitikerInnen durch die Aufhebung der Politik entmachtet, nicht indem es die PolitikerInnen durch demokratische Wahlen zur Herrschaft ermächtigt und einen „nationalen Befreiungskampf“ gegen ausländische Imperialismen führt.
Auch international war die sozialrevolutionäre Bewegung in einer tiefen Krise. Einige ausländische SozialrevolutionärInnen kritisierten nicht wirklich die Reproduktion bürgerlicher Ideologie durch das ungarische Proletariat während der Revolution von 1956, sondern idealisierten dessen Bewusstsein und verteidigten es gegen die staatskapitalistische Ideologie-Produktion, welche die Ereignisse von 1956 als „konterrevolutionär“ abqualifizierte. Um die staatskapitalistische Ideologie-Produktion als solche zu kritisieren, brauchte es aber keine Idealisierung des proletarischen Bewusstseins. Im Gegenteil, proletarische und intellektuelle RevolutionärInnen müssen das bestehende Klassenbewusstsein, was immer auch eine mehr oder minder große Reproduktion der bürgerlichen Ideologie einschließt, kritisieren, um bei der Radikalisierung des Klassenbewusstseins zu helfen. Dieser Kritik auszuweichen, um das bestehende Klassenbewusstsein gegen bestimmte Fraktionen der bürgerlichen Sozialreaktion zu verteidigen, heißt objektiv der ideologischen Beeinflussung des Proletariats durch andere Fraktionen der bürgerlichen Sozialreaktion Vorschub zu leisten.
Konkret auf Ungarn 1956 bezogen heißt das, dass ausländische SozialrevolutionärInnen, welche nicht bewusst die nationalistischen Tendenzen und die demokratischen Illusionen im Bewusstsein des ungarischen Proletariats klar und eindeutig kritisierten, objektiv der privatkapitalistischen Sozialreaktion Kopflangerdienste leisteten. In diese Falle rannten zum Beispiel die beiden subjektiven Sozialrevolutionäre Andy Anderson und Claude Lefort. So schrieb Andy Anderson über die demokratischen Illusionen des ungarischen Proletariats im Jahre 1956: „Die verschiedenen Programme (der ArbeiterInnenräte) forderten auch Erhöhungen der Löhne und Renten, doch waren dies nie die wichtigsten Programmpunkte. Viele umfassten auch Forderungen nach ,parlamentarischer Demokratie‘. Verschiedene Erklärungen sprachen Nagy das Vertrauen aus. Bevor nun die ,revolutionären Sozialisten‘ ihre Hände vor Entsetzen über den Kopf zusammenschlagen, sollten sie daran denken, dass im Vergleich zu den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die vor dem Oktober 1956 in Ungarn herrschten, auch ein derartiges liberales Programm revolutionär sein musste. Unter solchen Bedingungen haben demokratische Parolen eine explosive Wirkung. Sie waren ein großer Schritt nach vorn. Sie führten zur Zerstörung eines totalitären Staatsapparates.“ (Andy Anderson, Die Ungarische Revolution 1956, a.a.O., S. 122/123.)
Liberale Programme im Staatskapitalismus führten zur Demokratie als politischer Form der Reprivatisierung des Kapitals, zur Reproduktion der kapitalistischen Ausbeutung und für große Teile des Proletariats zu nacktem Elend. ArbeiterInnen, die im Staatskapitalismus für liberale Programme kämpfen, sind Opfer ihrer eigenen Illusionen, aber keine selbstbewussten Subjekte ihrer sozialen Befreiung. Anstatt Anderson auf den großen Widerspruch hinwies, der zwischen der realen Gestaltungsmöglichkeit der ArbeiterInnenräte als Organe der sozialen Befreiung und der Jämmerlichkeit des demokratischen Programmes, welches dem Proletariat die Rolle von Stimmvieh in freien Wahlen zur Ermächtigung von PolitikerInnen zuweist, bestand, reproduzierte Anderson die Illusionen des ungarischen Proletariats von 1956 in liberale Programme. Liberale Programme können überall auf der Welt nur die kapitalistische Ausbeutung reproduzieren.
Claude Lefort verteidigte folgendermaßen die Reproduktion des Nationalismus im Bewusstsein des Proletariats: „Diese Bewegung (von 1956) umfasst nun neue soziale Schichten. Zunächst war sie hauptsächlich eine Bewegung der Fabriken, bis auf Budapest, wo (…) Studenten, Angestellte, Kleinbürger sich an der Seite der Arbeiter befinden. Sie äußerte sich durch das Auftauchen der Räte. Aber der erste Rückzug der Regierung (…), die Bildung einer Koalitionsregierung (…) ermutigen alle Schichten der Bevölkerung sich zu erheben, denn der Sieg scheint allen greifbar nah zu sein. (…) Es ist ganz offenkundig, dass diese anderen Bevölkerungsschichten und besonders die Bauern vor allem für die demokratischen und nationalen Forderungen empfänglich sind. Doch diese Forderungen finden auch in der Arbeiterklasse große Resonanz, weil sie die Zerstörung des alten totalitären Staates bedeuten. Die Arbeiter sind für die Unabhängigkeit Ungarns mit Blick auf die russische Ausbeutung, (…). (…) Diese Verwirrung wird durch die von der russischen Armee ausgehenden Bedrohung gesteigert, denn alle müssen gleichzeitig die Fahne der nationalen Unabhängigkeit hochhalten.“ (Claude Lefort, Der ungarische Aufstand, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 16, Germinal Verlag, Fernwald (Annerod) 2001, S. 330/331.)
Nein, nicht alle müssen im Kampf gegen ausländische Imperialismen die nationale Unabhängigkeit hochhalten. RevolutionärInnen dürfen genau dies nicht tun. Sie müssen darauf hinweisen, dass der sowjetische Imperialismus sich durch ungleichen Handel mit Ungarn einen Teil des vom ungarischen Proletariat produzierten Mehrwertes aneignete und dass das ungarische Proletariat sich nur durch sozialen Kampf gegen ungarischen Nationalstaat und sowjetischen Imperialismus von Ausbeutung und Unterdrückung hätte befreien können. So lange das Proletariat im Kampf gegen ausländische Imperialismen nationale Illusionen hegt, reproduziert es geistig den bürgerlichen Nationalstaat, der von kapitalistischer Ausbeutung lebt. Ein Proletariat, welches nationale Ideologie reproduziert, kann sich nicht sozial von Kapital und Staat befreien, sondern bleibt objektiv ein Bauer im Schachspiel der Nationalkapitale. Das nationaldemokratische Programm vieler ArbeiterInnenräte von 1956 begünstigte objektiv die Reprivatisierung des Kapitals, auch wenn viele ArbeiterInen subjektiv das damals nicht wollten.
Nun ja, Andy Anderson und Claude Lefort begingen ihre schweren Fehler vor 1989, dem Jahr des Sieges der privatkapitalistischen Sozialreaktion in Osteuropa, den wir bewusst erlebten und reflektierten. 1956 triumphierte in Ungarn noch mal die staatskapitalistische Sozialreaktion. Ab vier Uhr morgens des 4. November ließ der sowjetische Imperialismus seine Truppen auf Budapest marschieren. Nur eine Stunde nach dem Beginn der sowjetischen Invasion bildete sich das prostaatskapitalistische und moskautreue Marionettenregime von Janos Kadar. Das Regime von Imre Nagy fügte sich kampflos der sowjetischen Invasion und begab sich in die jugoslawische Botschaft. Nagy und andere Mitglieder der gestürzten Regierung bekamen von – dem ein doppeltes Spiel treibenden –Jugoslawien politisches Asyl. Doch das Proletariat Ungarns gab sich nicht so schnell geschlagen. Der sowjetische Imperialismus und das Kadar-Regime konnten den bewaffneten Widerstand gegen die staatskapitalistische Konterrevolution erst am 11. November 1956 im wesentlichen brechen. Nach einem Geheimbericht des Statistischen Landesamtes wurden in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den staatskapitalistischen Repressionsorganen und dem militanten Widerstand vom 23. Oktober bis zum 11. November 1956 1330 ArbeiterInnen, 44 Studierende und 196 Kinder unter 14 Jahren getötet.
Doch das Ende des bewaffneten Kampfes war nicht das Ende des sozialen Widerstandes. Die ArbeiterInnenräte führten noch einen langen und zähen Kampf –auch in Form von Streiks –gegen das Kadar-Regime. Doch schließlich gelang es der staatskapitalistischen Restauration durch Scheinverhandlungen mit kompromisslerisch-opportunistischen Kräften innerhalb der ArbeiterInnenräte und durch brutale Repression den selbstorganisierten proletarischen Klassenkampf im Jahre 1957 zu zerschlagen. Der staatskapitalistischen Konterrevolution fielen viele Menschen zum Opfer. Bei Gefechten mit den Sowjettruppen wurden nicht wenige Widerständige nach der Gefangennahme ermordet. Mitglieder der ArbeiterInnenräte wurden eingesperrt und zum Teil hingerichtet. Die Repression des Kadar-Regimes gegen die TeilnehmerInnen an der Revolution von 1956 dauerte bis zum Frühjahr 1963. „Allein 1957 wurden Verfahren aus politischen Gründen in 20 000 Fällen eingeleitet, aber die Justiz ,schaffte‘ eine Verurteilung nur in etwa 6000 Fällen.“ (György Litvan, Janos M. Bak (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956, a.a.O., S. 151.)

 

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