Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus

Zum 95. Jahrestag des Kranstädter Aufstandes veröffentlichen wir das Kapitel „Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus“ aus der Broschüre „Schriften zur russischen Revolution“. Der Aufstand der Kronstädter Matrosen bleibt immer noch für viele SozialrevolutionärInnen ein Leuchtturm des revolutionäres Kampfes.

Kronstadt und die Dekadenz des Parteimarxismus

Der Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921 war der tragische Höhepunkt der russischen Revolution, der notwendigerweise in einer Niederlage enden musste, weil für einen revolutionären Sieg jede Voraussetzung fehlte. In ihm kämpfte die soziale Avantgarde der russischen Revolution, die Matrosen von Kronstadt, gegen die bolschewistisch-staatskapitalistische Konterrevolution. Es war das letzte Aufbäumen der proletarisch-revolutionären Selbstorganisation im Klassenkampf, bevor sie im Blut erstickt worden ist. „Kronstadt!“ ist und bleibt der Stachel im Arsch des Parteimarxismus.
Red Devil schrieb über die Entwicklung des Kronstädter Aufstandes: „Kronstadt selbst war eine befestigte Insel, die – vor Petrograd gelegen – zum Schutz der Hauptstadt gedacht war und deren Befestigungsanlagen dementsprechend zur Land abgewandten Seite ausgerichtet waren. Die Bevölkerung Kronstadts umfasste ungefähr 50.000 Menschen, darunter befanden sich die Mannschaften der baltischen Flotte, Soldaten der Garnisonen und einige Tausend Angestellte, Beamte, Handwerker, Offiziere, Werftarbeiter und deren Angehörige.
Die Kronstädter waren stets an der Spitze der revolutionären Bewegung gewesen. Das beweisen Meutereien und Revolten der Kronstädter gegen den Zaren (z.B. im Juli 1906 und im Jahr 1910) und später dann gegen die Regierung unter Kerenski als sie die Kommune von Kronstadt ausriefen. Es war der Kronstädter Panzerkreuzer ,Aurora‘, der das Signal zum Anfang der Oktoberrevolution gab und es waren ebenfalls die Kronstädter Matrosen, die das Telegrafenamt, die Staatsbank und weitere strategische Punkte der Hauptstadt besetzten. All dies hatte Trotzki dazu veranlasst zu schreiben: ,Die Matrosen von Kronstadt sind der Stolz und Ruhm der russischen Revolution.‘ Und Matrosen galten schlechthin als die fortgeschrittensten Elemente der Gesellschaft, da sie sich zumeist aus der Arbeiterklasse rekrutierten und meist auch schon vor 1917 Kontakt zu revolutionären Gruppen unterhielten. (…)
In ganz Russland brodelte es und der Unmut über die soziale Lage und Willkürherrschaft der Bolschewiki wuchs. Viele hatten erwartet, dass nach der Beendigung des Bürgerkrieges (…) die Einschränkungen (z.B. die politischen Rechte betreffend) aus der Kriegszeit abgeschafft und die wirtschaftliche Versorgung verbessert würden. Aber die alte Politik wurde fortgesetzt. Die Rechtlosigkeit der Arbeiter verdeutlicht der Bericht des enttäuschten Anarchisten Augustin Souchy, der 1920 auf Einladung Lenins nach Russland gefahren war: ,Die Putilow-Werke waren ähnlich wie in Deutschland die Krupp-Werke, die größte Waffenfabrik in Russland. Als ich da hinging und mir das angesehen habe – die Arbeiterräte in den Putilow-Werken hatten überhaupt keine Rechte. Ihre Rechte bestanden darin, Lebensmittel zu verteilen, nach hygienischen Bedingungen zu sehen, dass das in Ordnung ist.‘ Jeder Arbeiter konnte beim Versuch, seine Rechte zu verteidigen von jedem beliebigen Parteimitglied als ,konterrevolutionär‘ diskriminiert werden. Und die Macht geriet immer mehr in die Hände von Karrieristen, so dass ein Proletarier ohne Parteibuch bald schon geringer geschätzt wurde als ein Angehöriger des alten Adels mit ebensolchem. Die kommunistische Partei schien ein größeres Interesse an der politischen Macht als an der Rettung der Revolution und der Umsetzung ihrer Forderungen zu haben. (…)
Auslöser der Kronstädter Rebellion waren Streiks in Petrograd. Da sehr viele Angehörige der Kronstädter in Petrograd wohnten und aufgrund der Nähe hatten die Kronstädter enge Beziehungen zu Petrograd. Für die Petrograder Arbeiter wurde die Versorgungslage immer schlechter, so dass ihre Rationen um die Hälfte gekürzt wurden. Viele Fabriken und Werke waren geschlossen worden und viele Familien hungerten. Versammlungen in den Betrieben (die ersten gab es am 22. Februar 1921) wurden von der Regierung unterdrückt. Zur gleichen Zeit wurde allerdings bekannt, dass Parteimitglieder in den Betrieben mit frischem Nachschub an Kleidern und Schuhen versorgt worden waren. Ebenso wurden ausländischen Kapitalisten Zugeständnisse gemacht, dem Proletariat hingegen nicht.
So wuchs der Unmut und es gab am 24. Februar 1921 erste Streiks in den Patronny-Munitionswerken, den Trubotschny- und Baltiyskiwerken und der Fabrik Laferne. Die ,Arbeiter- und Bauernregierung‘ setzte ein Verteidigungskomitee ein und beantworte die Demonstrationen der Arbeiter mit einem großen Militäraufgebot, das die Arbeiter zerstreute, in der Art wie der Zar die Forderungen der Arbeiter oft genug beantwortet hatte. Allerdings weigerte sich ein beträchtlicher Teil der Petrograder Garnison auf ihre Klassenbrüder zu schießen und wurde deswegen entwaffnet. Aus Empörung über ihre Behandlung nahmen die Arbeiter am nächsten Tag Kontakt zu den Arbeitern anderer Betriebe auf. Die erneuten Versuche Demonstrationen durch die Straßen Petrograds durchzuführen, wurden erneut durch bewaffnete Soldaten unterdrückt. Am 26. Februar wurde die Streikbewegung während der Sitzung des Petrograder Sowjet von Rednern angegriffen und die Arbeiter der Trubotschny-Werke ,selbstsüchtige Arbeitsschinder‘ und ,Gegenrevolutionäre‘ genannt, die andere zur Unzufriedenheit aufhetzen würden. Die Arbeiter der Trubotschny-Werke wurden ausgesperrt, die Fabrik geschlossen und somit war die Belegschaft ihrer Lebensmittelrationen beraubt, was dem Hungertod gleichkam. Und das von einer Regierung, die im Namen der Arbeiterklasse herrschte.
Dies führte zu noch mehr Verbitterung und Feindschaft der Arbeiter gegen die Partei der Bolschewiki und es tauchten erste Proklamationen in den Straßen Petrograds auf. Dort hieß es u.a. in einer am 27. Februar verklebten: ,Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik ist notwendig. Zu allererst brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst über sich verfügen. Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung! Verlangt entschieden und auf organisierte Weise: Freilassung aller verhafteten Sozialisten und parteilosen Arbeiter. Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden. Freie Wahl von Werkstatt- und Fabrikkomitees und von Arbeitergesellschafts- und Sowjetvertretern.‘
Die Regierung antwortete auf diese Forderungen der Petrograder Arbeiter mit Verhaftungen und Repression gegen mehrere Arbeiterorganisationen. Petrograd wurde am 28. Februar unter ,außerordentliches Kriegsrecht‘ gestellt und der ,Ausnahmezustand‘ verhängt. Große Mengen an Militär, vor allem regierungstreue und zuverlässige Truppen, wurden von der Front nach Petrograd abkommandiert und wurden zur Einschüchterung der Arbeiter eingesetzt.
Nach Bekanntwerden der Streiks in Kronstadt hatten die Matrosen von Kronstadt eine Delegation nach Petrograd geschickt, um sich aus erster Hand über die dortige Lage zu informieren. Aufgrund der Schilderung der Delegation verfassten und verabschiedeten die Besatzungen der Panzerschiffe ,Petropawlowsk‘ und ,Sewastopol‘ eine Protestresolution, in der sie sich mit den Forderungen der streikenden Petrograder Arbeiter solidarisierten. Von der bolschewistischen Parteipresse wurde behauptet, die Resolution atme den Geist der reaktionären Schwarzhunderter (Wie reaktionär bitte sind Forderungen nach Freiheit aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und Arbeiter, Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter, Bauern, Anarchisten und andere Linke, Abschaffung der Bevormundung durch die Partei, Neuwahlen zu freien Sowjets ohne Vorherrschaft irgendwelcher Parteien, etc.? ). Am 1. März wurde eine öffentliche Versammlung einberufen, um über den Bericht der Delegation zu beraten. An dieser Versammlung nahmen über 16.000 Kronstädter teil und ebenfalls der Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativrepublik, Kalinin, und der Kommissar der Ostseeflotte, Kusmin, welche auch zur versammelten Menge sprachen. Kusmin drohte den versammelten Arbeitern und Matrosen: ,Ich bin eurer Gnade ausgeliefert, ihr könnt mich erschießen, wenn ihr wollt. Aber wenn ihr es wagt, die Hand gegen die Regierung zu erheben, werden die Bolschewiki euch bis zum Äußersten bekämpfen.‘
Die Delegation erstattete Bericht über die Ereignisse und Lage in Petrograd. Die Reden der Parteioffiziellen machten keinen Eindruck auf die Versammelten und die Petropawlowsk-Resolution wurde einstimmig angenommen. Es wurde auch beschlossen, erneut Delegierte nach Petrograd zu schicken und die Petrograder aufzufordern, parteilose Delegierte nach Kronstadt zu entsenden. Die Delegation, die nach Petrograd abreiste, wurde verhaftet und über ihr weiteres Schicksal ist bis heute nichts bekannt.“ (Red Devil, Die Kronstadt-Rebellion. Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!, Bibliothek des Widerstandes, Lübeck Januar 2001, S. 4-7.)
Von einigen Formulierungen, die Red Devil heute auch nicht mehr verwenden würde, wie zum Beispiel der positive Verweis auf „politische Rechte“, welche nur von einem Staat garantiert werden können, mal abgesehen, war das eine gute Analyse.
Analysieren wir die von den KronstädterInnen beschlossene Resolution auf der Versammlung der Mannschaften der ersten und zweiten Brigade der Schlachtschiffe vom 1. März 1921 etwas genauer. Deshalb hier ihr vollständiger Wortlaut:
„Nachdem wir den Bericht der Vertreter der Mannschaften gehört haben, die von der Vollversammlung der Schiffsmannschaften nach Petrograd entsandt worden waren, um sich über die Lage in Petrograd Klarheit zu verschaffen, haben wir beschlossen:
1. Angesichts der Tatsache, dass die bestehenden Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum Ausdruck bringen, unverzüglich Neuwahlen zu den Sowjets unter den Bedingungen geheimer Stimmabgabe und freier vorhergehender Wahlagitation für alle Arbeiter und Bauern durchzuführen.
2. Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linkssozialistische Parteien.
3. Versammlungsfreiheit, Freiheit der Gewerkschaften und Bauernvereinigungen.
4. Spätestens bis zum 10. März 1921 eine nichtparteigebundene Konferenz von Arbeitern, Rotarmisten und Matrosen aus den Städten Petrograd und Kronstadt sowie aus dem Petrograder Gouvernement einzuberufen.
5. Alle politischen Gefangenen, die sozialistische Parteien angehören, zu befreien ebenso wie alle Arbeiter und Bauern, Rotarmisten und Matrosen, die in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrt wurden.
6. Eine Kommission zur Überprüfung der Prozessakten aller in Gefängnissen und Konzentrationslagern Eingeschlossenen zu wählen.
7. Jegliche Politischen Abteilungen abzuschaffen, da nicht eine einzige Partei Privilegien für die Propagierung ihrer Ideen beanspruchen und vom Staat zu diesem Zweck Geld erhalten darf. An ihre Stelle sollen von den örtlichen Organisationen gewählte Kultur- und Bildungskommissionen treten, für die Mittel vom Staat bewilligt werden müssen.
8. Unverzüglich alle Kontrollabteilungen [gegen den Schleichhandel] abzuschaffen.
9. Gleiche Lebensmittelrationen für alle Werktätigen mit Ausnahme derjenigen in gesundheitsschädlichen Berufen.
10. Die kommunistischen Kampfgruppen in allen Truppeneinheiten sowie auch die verschiedenen kommunistischen Aufsichtsdienste in den Fabriken und Betrieben aufzulösen. Sollten aber solche Aufsichtsdienste und Kampfgruppen benötigt werden, können sie beim Militär aus den Kompanien bestimmt und in den Fabriken und Betrieben nach Gutdünken der Arbeiter eingesetzt werden.
11. Den Bauern das volle Recht zu geben, über ihr eigenes Land so zu verfügen, wie sie es wünschen, und auch Vieh zu besitzen, sofern sie es mit eigenen Kräften halten, d.h. sich keiner Lohnarbeit bedienen.
12. Wir ersuchen alle Militäreinheiten ebenso wie unsere Kameraden, die Kadetten, sich mit unserer Resolution solidarisch zu erklären.
13. Wir fordern, dass alle Resolutionen durch die Presse weitesgehend bekanntgemacht werden.
14. Ein mobiles Kontrollbüro einzusetzen.
15. Freie handwerkliche Produktion auf der Basis eigener Hände Arbeit zu gestatten [d.h. ohne Lohnarbeit].
Die Resolution wurde von der Brigadenversammlung einstimmig bei zwei Enthaltungen angenommen Der Vorsitzende der Brigadenversammlung: Petritschenkow, Sekretär: Perepelkin. Die Resolution wurde von der überwältigenden Mehrheit der ganzen Kronstädter Garnison angenommen. Der Vorsitzende: Vasil’ev. Zusammen mit dem Genossen Kusmin stimmt Vasil’ev gegen die Resolution.“ (Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 1 , vom 3. März 1921, in Anhang von Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, Herausgegeben von Fritz Kool und Erwin Oberländer, Juni 1972, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, S. 343/344. )
Diese Resolution richtete sich also gegen die bolschewistische Parteidiktatur und gegen ihre Repression gegen ArbeiterInnen, BäuerInnen und linkssozialistische Parteien. Sie war ein Bekenntnis zur proletarischen Selbstorganisation, ohne sich grundsätzlich gegen den Staat zu wenden. Das letztere war eine Inkonsequenz. Gleichzeitig richtete sich die Resolution gegen den bolschewistischen „Kriegskommunismus“ (siehe zu diesem das gleichnamige Kapitel im Text Der BürgerInnen- und imperialistische Interventionskrieg (1918-1921)), der auf Zwangswegnahme von Nahrungsmitteln bei den BäuerInnen beruhte. Indem die Kronstädter Matrosen für die kleinbäuerliche Agrarwirtschaft ohne Lohnarbeit eintraten, brachten sie auch bäuerlichen Protest gegen den bolschewistischen Staatskapitalismus zum Ausdruck. „Viele von ihnen, die selbst in den Dörfern gewesen waren, hatten sich an Ort und Stelle davon überzeugt, wie grausam die bolschewistische Regierung mit den Bauern umgeht, wie feindlich sie dem Dorf gegenüber eingestellt ist. Zu Hause in den Heimatorten und Dörfern sahen die Matrosen, dass die Bolschewiki den Bauern mit Gewalt das letzte Stück Brot und Vieh wegnahmen und mitleidlos mit allen umsprangen, die sich ihnen nicht widerspruchslos folgen. Abgerechnet wird mit Hilfe von Erschießungen, Verhaftungen und Sondermaßnahmen… Auf Grund ihrer eigenen Erfahrung und auf Grund der Erfahrung ihrer Verwandten überzeugten sich die Kronstadter Matrosen, dass die Bolschewiki, die sich selbst als Bauernmacht bezeichnen, in Wirklichkeit die allerschlimmsten Feinde der Bauern sind. Feinde der Bauern und der Arbeiter.“ (Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 303.)
Doch das Programm einer kleinbäuerlichen Agrarproduktion ohne Lohnarbeit war utopisch. Denn die kleine Warenproduktion beruht auf Konkurrenz, welche schließlich zur sozialökonomischen Ausdifferenzierung führen muss. Einige bäuerliche Besitztümer werden größer, während andere KleinbäuerInnen der Konkurrenz nicht standhalten können, und daraus folgt schließlich die Lohnarbeit der ruinierten KleinbäuerInnen. Die kleinbürgerliche Warenproduktion ist die Grundlage der Lohnarbeit, aber nicht die Alternative zu ihr.
Die kleinbürgerlichen Wirtschaftsforderungen des Kronstädter Aufstandes war Ausdruck der sozialökonomischen Rückständigkeit Russlands, in der eine klassenlose Gesellschaft, die sowohl auf der Verneinung der staatskapitalistischen Diktatur der Bolschewiki als auch der kleinbürgerlichen Warenproduktion beruhen musste, objektiv nicht möglich war. Durchsetzen konnte sich nur die staatskapitalistische Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder die weitere Entwicklung der kleinbäuerlichen Agrarwirtschaft zum Privatkapitalismus auf dem Lande. Auch wenn die Kronstädter Resolution die kapitalistische Lohnarbeit ablehnte, die Forderung nach kleinbäuerlicher Freiheit konnte objektiv nur privatkapitalistische Verhältnisse in der Landwirtschaft reproduzieren. Das Wirtschaftsprogramm des Kronstädter Aufstandes war deshalb utopisch-sozialrevolutionär, weil die objektiven sozialökonomischen Bedingungen der kleinen Agrarwirtschaften keine reale soziale Revolution erlaubten. Außerdem waren die Kronstädter Matrosen selbst noch nicht sozial vom KleinbäuerInnentum emanzipiert. So kamen im Kronstädter Aufstand sowohl proletarisch-sozialrevolutionäre als auch kleinbäuerliche, und damit objektiv privatkapitalistische Forderungen zum Ausdruck.
Mit der propagandistischen Bündelung von kleinbäuerlich-privatkapitalistischen und proletarisch-sozialrevolutionären Forderungen, kam ja auch der staatskapitalistische Bolschewismus an die Macht, aber er konnte weder die kleinbäuerlich-privatkapitalistischen Forderungen noch die proletarisch-sozialrevolutionären Forderungen erfüllen, sondern sich nur taktisch zu beiden verhalten und letztendlich beide durch bürokratischen Terror ersticken. Indem die Kronstädter Matrosen im März 1921 sowohl kleinbäuerliche als auch proletarisch-sozialrevolutionäre Forderungen stellten, forderten sie nicht mehr aber auch nicht weniger vom Bolschewismus, dass dieser seine eigenen Versprechungen vom Oktober 1917 erfüllen solle. Doch dass konnte der Bolschewismus als staatskapitalistische Kraft nicht tun. Damit war das Programm des Kronstädter Aufstandes eine Reproduktion der sozialrevolutionären Illusionen, welche die Matrosen im Oktober 1917 zu Verbündeten des Bolschewismus gemacht hatten. „Ihr Programm war unter den gegebenen Umständen zweifellos utopisch, da sie die Losungen des Oktobers proklamierten, die sich in der Praxis als nicht durchführbar erwiesen hatten. Ihnen war eine Wirtschaftsordnung auf kleinster Stufenleiter vertraut geworden; der Aufbau einer modernen Industrie vertrug sich nicht mit der Kombination von Tauschhandel und lokaler Autonomie. Ihr Programm war durchaus nicht ,ausgesprochen bäuerlicher Art‘, wie Schapiro meint (Leonard Schapiro, The Orgin of the communist Autocracy. Political opposition in the Soviet State. First phase 1917-1922, London 1955, S. 306), aber unter den spezifischen Bedingungen Kronstadts war das Verständnis für Bauernwünsche leichter aufzubringen als etwa bei den Arbeitern Petrograds, die weniger Gelegenheit hatten, die Möglichkeiten des primitivsten Handelsverkehrs auszunutzen als die Bewohner des soviel kleineren Hafenstadt.“ (Einführung zu Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 289/90.)
Als der Bolschewismus sich konterrevolutionär gegen den Kronstädter Aufstand stellte, erhoben die Matrosen die Parole von der „dritten Revolution“ gegen den Bolschewismus: „Als die Arbeiterklasse die Oktoberrevolution zum Erfolg führte, hoffte sie, ihre Befreiung zu erlangen. Das Ergebnis aber war eine noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit.
Die Macht des Polizeimonarchismus ging in die Hände der kommunistischen Eindringlinge über, die den Werktätigen statt der Freiheit ständige Furcht vor der Folterkammer der Tscheka brachten, deren Greueltaten die der Gendarmerieverwaltung des zaristischen Regimes um ein Vielfaches übertrafen.
Nach den vielen Kämpfen und Leiden erntete der Werktätige Sowjetrusslands nur Bajonettstiche, Kugeln und grobe Anschnauzer der Opricniki der Tscheka. Das ruhmreiche Wappen des Arbeiterstaates – Hammer und Sichel – ersetzte die kommunistische Regierung in Wirklichkeit durch Bajonett und Kerkergitter, um der neuen Bürokratie, den kommunistischen Kommissaren und Beamten, ein ruhiges, sorgloses Leben zu sichern.
Am schändlichsten und verbrecherischsten ist jedoch die moralische Versklavung durch die Kommunisten: sie machten auch vor der inneren Einstellung der Werktätigen nicht halt, sondern zwangen sie, nur so zu denken wie sie selbst.
Mit Hilfe der staatlichen Gewerkschaften fesselten sie die Arbeiter an ihre Werkbänke und machten so die Arbeit nicht zur Freude, sondern zu einer neuen Sklaverei. Auf die Proteste der Bauern, die in spontanen Aufständen zum Ausdruck kamen, und der Arbeiter, die schon durch die Lebensbedingungen selbst zu Streiks gezwungen waren, antworteten sie mit Massenerschießungen und mit einer Blutgier, die sie sich nicht erst bei den zaristischen Generälen auszuborgen brauchten.
Das werktätige Russland, das als erstes die rote Fahne der Befreiung der Arbeit erhoben hatte, wurde vollkommen überflutet vom Blut derjenigen, die zum Ruhm der kommunistischen Herrschaft zu Tode gequält wurden. In diesem Meer von Blut ertränkten die Kommunisten alle großen und leuchtenden Verheißungen und Losungen der Arbeiterrevolution.
Immer klarer zeichnete sich das ab was jetzt offenbar wurde, nämlich dass die RKP nicht, wie sie vorgab, für die Werktätigen eintritt; die Interessen des werktätigen Volkes sind ihr fremd, und einmal an die Macht gelangt, kennt sie nur die Sorge, sie nicht wieder zu verlieren, und deshalb sind alle Mittel erlaubt: Verleumdung, Gewalt, Betrug, Mord und Rache an den Familienangehörigen der Aufständischen. (…)
Im Kampf mit der Unterdrückung und Gewalt flammte hier und dort im Land das Feuer des Aufstandes auf. Arbeiterstreiks brachen aus, aber die bolschewistischen Spitzel schliefen nicht und ergriffen alle Maßnahmen, um die unvermeidliche Dritte Revolution zu verhüten und zu unterdrücken. (…)
Das aufständische arbeitende Volk hat begriffen, dass man im Kampf mit den Kommunisten und gegen die von ihnen wieder hergestellte Leibeigenschaft nicht auf halbem Wege stehenbleiben kann. Man muss bis zum Ende gehen. Sie täuschen Konzessionen vor: sie beseitigen die Kontrollabteilungen [gegen den Schleichhandel] im Petrograder Gouvernement, und zehn Millionen Goldrubel werden für den Kauf von Lebensmitteln im Ausland bewilligt. Man täusche sich aber nicht: hinter diesem Köder verbirgt sich die eiserne Faust des Herrn, des Diktators, der nur die Wiederherstellung der Ruhe abwartet, um sich seine Zugeständnisse hundertfach vergelten zu lassen. (…)
Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten des Arbeiters zerbrechen und ihm den neuen und breiten Weg des sozialistischen Aufbaus eröffnen wird. Diese neue Revolution wird die arbeitenden Massen in Ost und West aufrütteln. Sie wird das Beispiel eines neuen sozialistischen Aufbaues im Gegensatz zum mechanischen und regierungsmäßigen bolschewistischen ‚Aufbau‘ geben. (…) Die Arbeiter und Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich die Konstituante mit ihrem bürgerlichen Regime und die kommunistische Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwürgen drohte. Die nunmehr vollzogene Änderung gibt den arbeitenden Massen endlich die Möglichkeit, frei gewählte Räte zu verwirklichen, die ohne gewaltsamen Druck einer Partei funktionieren. Diese Änderung wird ihnen auch die Möglichkeit geben, die verstaatlichten Gewerkschaften in freie Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen zu verwandeln …“ (Leitartikel Wofür wir kämpfen der Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 6, vom 3. März 1921, vom 8. März 1921, a.a.O., S. 386-388.)
Die ökonomische Herrschaftsform der bolschewistischen Partei- und Staatsbürokratie wird hier ganz klar als staatskapitalistisch analysiert. In Kronstadt entwickelte sich im März 1921 also jene Verschmelzung von Klasseninstinkt mit der materialistischen Analyse zum revolutionären Massenbewusstsein, das revolutionäre Proletariat stieß mit dem bolschewistischen Staatskapitalismus zusammen. Das Bündnis zwischen Bolschewiki und Kronstädter Matrosen aus dem Jahre 1917 war zerbrochen. Die Kronstädter Matrosen waren neben einigen AnarchistInnen die ersten Kräfte der internationalen Revolution, welche den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus aussprachen, die westeuropäischen RätekommunistInnen folgten ihnen. Die proletarischen RevolutionärInnen in Ost und West begannen das taktische Verhältnis, welches die Partei Lenins und Trotzkis zur proletarischen Selbstorganisation einnahm, zu verstehen. So analysierte die GIK in ihren Thesen über den Bolschewismus: „Indem die Bolschewiki die Räte vorwiegend als Aufstandsorgane betrachteten, statt als die Organe der Selbstverwaltung der proletarischen Klasse zeigen sie um ein übriges, dass es sich für sie in den Räten nur um ein Werkzeug handelt, mit dessen Hilfe ihre Partei die Macht an sich zieht. Praktisch hat der Bolschewismus das nicht nur mit der Organisierung des Sowjetstaates nach der Machteroberung allgemein bewiesen, sondern auch im speziellen Fall der blutigen Niederschlagung der Kronstadtrebellion. Die bäuerlich-kapitalistischen Forderungen dieses Aufstandes wurden durch die NEP-Politik erfüllt, seine proletarisch-demokratischen aber in Strömen von Arbeiterblut erstickt.“ (Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, Thesen über den Bolschewismus, a.a.O., S. 31.)
Für Partei-„KommunistInnen“ ist es undenkbar, dass sie ihren kalten und heißen Krieg gegen die proletarische Selbstorganisation jemals einstellen werden – im Gegensatz dazu war und ist ihnen eine friedliche Koexistenz mit der privatkapitalistischen Reaktion vorübergehend oder auch langfristig möglich. So verwirklichten die Bolschewiki die kleinbäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes zwischen 1921 und 1928 durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) mit einer vorübergehenden Reproduktion des Privatkapitalismus in der Landwirtschaft als Folgeerscheinung.
Die Bolschewiki verwirklichten also vorübergehend die kleinbäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes, bevor sie Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Kurs auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die staatskapitalistische Industrialisierung nahmen. Aber ob nun die Bolschewiki oder die Kronstädter Matrosen sich zum Fürsprecher bäuerlicher Forderungen machten, objektiv konnte das nur zur Reproduktion privatkapitalistischer Strukturen in der Landwirtschaft führen. Die bäuerlichen Forderungen des Kronstädter Aufstandes waren also objektiv privatkapitalistisch-reaktionär, trotz der subjektiven Ablehnung der Lohnarbeit. Ein Industrieproletariat, das noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht und sich auch noch nicht praktisch und geistig vom KleinbäuerInnentum befreit hat, ist weder objektiv noch subjektiv zu seiner sozialrevolutionären Selbstaufhebung fähig. Die bäuerlichen Forderungen der Kronstädter waren subjektiv utopisch-revolutionär, aber objektiv reaktionär. Doch die privatkapitalistische NEP und später die staatskapitalistische Zwangskollektivierung der Landwirtschaft der Bolschewiki waren noch nicht mal subjektiv utopisch-revolutionär, sondern die reale Konterrevolution. Die Kronstädter konnten im Jahre 1921 die kleine Warenproduktion objektiv nicht aufheben, und deshalb auch nicht die Lohnarbeit. Ihre utopische Lösung dieses Dilemmas war ein Ja zur kleinbürgerlichen Warenproduktion und ein Nein zur Lohnarbeit und staatskapitalistischer Zwangskollektiverung der Landwirtschaft. Auch wenn diese Forderung objektiv nicht durchsetzbar war, so blieb sie dennoch subjektiv die einzige sozialrevolutionäre Forderung für die russische Landwirtschaft. Eine harte Nuss für die materialistische Dialektik: Auch die einzig subjektiv sozialrevolutionäre Forderung in der Landwirtschaft war objektiv reaktionär. Nur DogmatikerInnen können den Kronstädter Matrosen für ihre utopisch-revolutionären Losungen verantwortlich machen, wo objektiv keine reale Revolution machbar war.
In der Tat blieb den Kronstädter Matrosen nichts anderes übrig, als das, was sie schon vier Jahre an der Seite der Bolschewiki getan hatten: Für revolutionäre Illusionen zu kämpfen, die allerdings einen harten materialistischen Kern besaßen: Ihre Interessen und Bedürfnisse, die sie sowohl von der privatkapitalistischen als auch von der staatskapitalistischen Konterrevolution unterschied. Auch im Todeskampf mit dem Staatskapitalismus distanzierten sie sich von der privatkapitalistischen Konterrevolution: „Die Kronstädter Matrosen und die schwielenbedeckten Hände der Arbeiter haben den Kommunisten das Steuer aus den Händen gerissen und sich selbst ans Steuerrad gestellt.
Kraftvoll und sicher lenken sie das Schiff der Sowjetmacht nach Petrograd, von wo sich die Herrschaft der schwieligen Hände über das ganze leidgeprüfte Russland ausdehnen soll.
Aber seid auf der Hut, Genossen.
Verstärkt eure Wachsamkeit: eure klippenreiche Strecke führt euch ins offene Fahrwasser.
Eine einzige unbedachte Drehung des Steuerrades, und das Schiff mit seiner euch so teuren Ladung – mit der Ladung des sozialen Aufbaus – kann auf einen Felsen auflaufen.
Habt ein wachsames Auge auf die Kommandobrücke, Genossen, denn schon schleichen sich die Feinde an sie heran. Ein einziger Fehler, und sie entreißen euch das Steuerrad, und das sowjetische Schiff sinkt unter dem schadenfrohen Gelächter der zaristischen Lakaien und der Handlanger der Bourgeoisie.
Genossen, ihr feiert in diesem Augenblick einen großen und unblutigen Sieg über die Diktatur der Kommunisten, und mit euch feiern auch eure Feinde.
Aber die Motive der Freude sind bei euch und bei ihnen völlig verschieden.
Ihr seid beseelt von dem heißen Verlangen, die echte Macht der Sowjets wiederherzustellen, und getragen von der edlen Hoffnung, dem Arbeiter freie Arbeit und dem Bauern das Recht zu verschaffen, über sein Land und die Früchte seiner Arbeit frei zu verfügen; sie aber hegen die Hoffnung, die zaristische Peitsche und die Privilegierung der Generäle zu erneuern.
Eure Interessen sind verschieden, und daher sind sie keine Weggenossen für euch.
Ihr musstet die Macht der Kommunisten brechen, um friedlichen Aufbau und schöpferische Arbeit leisten zu können; sie aber brauchen den Sturz der Kommunisten, um die Arbeiter und Bauern zu versklaven.
Ihr sucht Freiheit, sie wollen euch erneut die Ketten der Knechtschaft anlegen.
Seid auf der Hut. Lasst keine Wölfe im Schafspelz nahe an die Kommandobrücke heran. („Herren“oder „Genossen“, in: Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 4 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 359/360.)
Der Kronstädter Aufstand war also subjektiv für die proletarische Selbstorganisation, für die Sowjetmacht, für das Weitertreiben der russischen Revolution über seine bolschewistisch-staatskapitalistische Etappe hinaus. Allerdings erlaubten die objektiven Bedingungen eine solche „dritte Revolution“ nicht. Deshalb kann es auch kaum verwundern, dass sich die Unzufriedenheit der russischen ArbeiterInnen und besonders der BäuerInnen bereits an anderen Orten in demokratisch-parlamentarischen und antisowjetischen Losungen ausdrückte. Die Warnungen der Kronstädter Matrosen vor der privatkapitalistischen Konterrevolution waren also alles andere als übertrieben.
So tauchten bereits bei den streikenden ArbeiterInnen Petrograds parlamentarisch-demokratische und antisowjetische Parolen auf. So hieß es in einer „Proklamation der sozialistischen Nevski-Arbeiter“ vom 28. Februar 1921: „Wir wissen, wer die Verfassungsgebende Versammlung fürchtet. Das sind diejenigen, die dann nicht mehr plündern können, sondern sich vielmehr von den gewählten Volksvertretern für ihren Betrug, ihre Plünderei und alle Verbrechen verantworten müssen.
Fort mit den verhassten Kommunisten! Nieder mit der Sowjetmacht! Es lebe die Verfassungsgebende Versammlung des ganzen Volkes!“ (Zitiert nach Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 302.)
Doch die Kronstädter stellten sich den demokratischen Illusionen, die auch weniger klare und revolutionsmüde gewordene Teile des Proletariats erfassten, entgegen: „Nicht eine Konstituierende Versammlung, sondern Sowjets sind das Bollwerk der Werktätigen.“ (Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 11 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 447.) Ihre Hauptlosung „Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!“ richtete sich sowohl gegen die bolschewistische Parteidiktatur als auch gegen die demokratische Parteiendiktatur, in dem das Übel zwar nicht monopolisiert, sondern pluralisiert, aber eben noch immer da ist: Die politische Herrschaft der Parteien als Ausdruck der sozialen Diktatur des Kapitals.
Allerdings muss daran erinnert werden, dass wir die Sowjets der russischen Revolution als Mischformen aus proletarischen Klassenkampforganen und einer kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“ bezeichneten. Der Kronstädter Aufstand reproduzierte objektiv teilweise die kleinbürgerliche Sowjetdemokratie vor der Oktoberrevolution, doch die Sowjetdemokratie war in dieser Zeit nur eine kleinbürgerliche Ergänzung der großbürgerlichen Demokratie. Die Forderung nach Freiheit für die kleinbürgerlich-demokratischen Parteien (Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“) entsprach objektiv nicht den Interessen des russischen Proletariats. Auch dem Kronstädter Aufstand fehlte ein grundsätzlich antipolitisches Bewusstsein.
Doch diese Kritik an der kleinbürgerlichen „ArbeiterInnendemokratie“ und deren tendenzieller Reproduktion durch die Kronstädter Matrosen hindert uns nicht daran, den Kronstädter Aufstand gegen alle Lügen des Parteimarxismus zu verteidigen. All die TrotzkistInnen, welche die staatskapitalistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes als „tragische Notwendigkeit“ verteidigen, aber andere ArbeiterInnenaufstände im Staatskapitalismus (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1956, 1970, 1976 und 1980 in Polen), die subjektiv viel stärkere proletarische Illusionen in „Marktwirtschaft und Demokratie“ zum Ausdruck brachten, als „beginnende politische Revolutionen gegen den Stalinismus“ abfeiern, geben sich als erbärmliche ZentristInnen erkennen, die hilflos zwischen staatkapitalistischer und privatkapitalistischer Konterrevolution schwanken. Ihre Verteidigung des „ArbeiterInnenstaates“, war staatskapitalistisch-reaktionär, und ihr Eintreten für die „Arbeiterdemokratie“ stärkte die privatkapitalistisch-demokratischen Illusionen in der ArbeiterInnenklasse. Die trotzkistischen Herren und Damen sind ein Ausdruck des konterrevolutionären Charakters des Parteimarxismus.
Anders die Kronstädter Matrosen, sie lösten sich aus der reaktionären Umklammerung des Bolschewismus und gaben subjektiv alles –ihr Leben– in einem Kampf, der objektiv nicht gewinnbar war. Sie stellten sich bewusst in die Tradition der russischen Revolution um diese weiterzutreiben. Dies geht ganz klar aus dem Artikel Die Etappen der Revolution hervor:
„Vier Jahre sind bereits vergangen, seitdem das dreihundert Jahre alte Joch der Autokratie stürzte.
Das unterjochte, von den Gendarmen und der Polizei Nikolaus‘ bevormundete Volk stieß den verfaulten Thron des Zaren um.
Ganz Russland, ob reich oder arm, freute sich über die Freiheit.
Die Kapitalisten und Gutsbesitzer waren zufrieden, weil sie endlich, ohne mit dem Zaren und seinen Helfershelfern teilen zu müssen, noch mehr in ihre Taschen sammeln konnten, indem sie wie früher den Arbeiter und Bauern um die Früchte ihrer Arbeit betrogen.
Sie hofften sich fest in den Rücken der Werktätigen einzunisten, nachdem sie letztere in der Verfassungsgebenden Versammlung, auf die Kerenski langsam aber sicher zusteuerte, übers Ohr gehauen hatte.
Die Bourgeoisie war überzeugt, dass es ihr auch weiterhin gelingen werde, den Bauern und Arbeiter zu rupfen.
Unerfahrene Bauern und Arbeiter strebten ebenfalls nach der Konstituante, ohne zu wissen, was sie dem Werktätigen verhieß.
Die Losung der Konstituierenden Versammlung beherrschte ganz Russland.
Das war nur vorübergehend. Aber der Bauer war wieder am Ausgangspunkt angelangt und wartete, wann die Konstituante wohl die Landfrage entscheiden werde; der Arbeiter jedoch wurde nach Kräften ausgebeutet. Wie zuvor hatte er kein Recht auf die Früchte seiner Arbeit.
Schließlich begriffen aber die Werktätigen Russlands, dass sie der Hörigkeit der Gutsbesitzer und Kapitalisten nicht entronnen waren und dass ihnen eine neue Form der Sklaverei –die Herrschaft der Bourgeoisie – bevorstand.
Die Geduld hatte ein Ende, und im vereinten Ansturm der Matrosen, der Armee, der Arbeiter und Bauern wurde die Bourgeoisie im Oktober 1917 zurückgeschlagen.
Es schien, als ob das werktätige Volk nun in seine Rechte eintreten werde.
Aber die kommunistische Partei, voll von Egoisten, ergriff die Macht, nachdem sie die Bauern und Arbeiter, in deren Namen sie handelte, beiseite geschoben hatte. Sie beschloss, das Land mit Hilfe ihrer Kommissare nach dem Vorbild des von den Gutsbesitzern beherrschten Russland zu regieren.
Drei Jahre lang stöhnten die Werktätigen Sowjetrusslands in den Folterkammern der Tscheka. Überall herrschte ein Kommunist über Arbeiter und Bauern.
Eine neue kommunistische Knechtschaft entstand. Der Bauer wurde zum Knecht auf den Sovchosen, der Arbeiter zum Lohnempfänger einer staatlichen Fabrik. Die schaffende Intelligenz verschwand. Wer zu protestieren zu versuchte, wurde von der Tscheka gefoltert. Mit demjenigen, der sich auch weiterhin auflehnte, machte man kurzen Prozess… Sie wurden an die Wand gestellt.
Die Atmosphäre war zum Ersticken. Sowjetrussland verwandelte sich in ein allrussisches Zuchthaus.
Arbeiterunruhen und Bauernaufstände bezeugten jedoch, dass die Geduld zu Ende ging. Ein Aufstand der Werktätigen rückte näher. Es kam der Zeitpunkt, an dem die Herrschaft der Kommissare gestürzt werden musste.
Als aufmerksame Wächter über die Errungenschaften der sozialen Revolution verschlief Kronstadt diesen Zeitpunkt nicht. Schon während der Februar- und der Oktoberrevolution hatte es in den ersten Reihen gestanden. Jetzt erhob es als erstes das Banner des Aufstandes zur Dritten Revolution der Werktätigen.
Die Autokratie stürzte. Die Konstituante versank ins Reich der Legenden.
Auch die Herrschaft der Kommissare wird zusammenbrechen.
Die Zeit der echten Macht der Werktätigen, der Macht der Sowjets ist angebrochen.
Ihr seid als Opfer des großen Kampfes gefallen.
Eure unvergesslichen Namen werden im edlen Andenken des werktätigen Volkes, für dessen Glück ihr im Kampf umgekommen seid, nicht vergehen.
Inmitten der Schlacht habt ihr nicht an euch selbst gedacht
Als Kämpfer für eine Idee seid ihr nicht von der Bande der Tyrannen zurückgewichen.
Ihr seid die ersten Opfer der Dritten Revolution, der Revolution der Arbeit; ihr habt ein Beispiel für unerschütterliche Standhaftigkeit im Kampf für das eigene Recht gegeben.
Unter der Losung: ,Siegen oder sterben‘ seid ihr angetreten. Ihr seid gefallen.
Wir, die wir leben, werden den Kampf zu Ende führen.
Wir geloben über euren frischen Gräbern, zu siegen oder an eurer Seite begraben zu werden.
Schon ist die Morgenröte der Großen Befreiung der Werktätigen angebrochen.“ (Die Etappen der Revolution, in: Mitteilungen des Provisorischen Revolutionskomitees der Matrosen, Rotarmisten und Arbeiter der Stadt Kronstadt, Nr. 11 vom 6. März 1921, a.a.O., S. 440-442.)
Doch außerhalb Kronstadts drückte sich der antagonistische Klassengegensatz zwischen bolschewistischer Partei/Staatsbürokratie auf der einen Seite und den bäuerlichen und proletarischen auf der anderen bei letzteren vorwiegend in bürgerlich-demokratischen Forderungen aus. „Freies Russland“ schrieb über diese Isolation der Kronstädter Matrosen in ihrem Kampf für die proletarische Selbstorganisation: „Die Kronstädter hatten eine klare Vorstellung vom Charakter ihres Aufstandes. Sie ließen sich nicht dadurch irremachen, dass in demselben Petrograd die Arbeiter die Konstituante forderten, dass in der Umgebung Moskaus und Petroggrads der Feuerschein der Aufstände unter der Losung einer neuen Konstituante aufloderte und dass im fernen Sibirien diese Losung schon verwirklicht worden war… (Anmerkungen der Buchherausgeber: Nach dem Zusammenbruch Kolcaks im April 1920 hatte sich in Transbaikalgebiet eine unabhängige demokratische Fernostrepublik konstituiert. Es wurden Wahlen zu einer Konstituierenden Versammlung abgehalten, die im Januar 1921 eine Verfassung verabschiedete, die sich bürgerlich-demokratischer Formen bediente.“ (Freies Russland, Die Wahrheit über Kronstadt, in: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Band 2: Kronstadt, a.a.O., S. 332.)
Wie gesagt, objektiv war diese „dritte Revolution“ nicht durchführbar, objektiv war nur der Sieg der staatskapitalistischen oder der privatkapitalistischen Reaktion möglich, wie auch der deutsch-amerikanische Rätekommunist Paul Mattick erkannte: „Die Rebellionen richteten sich nicht gegen das Sowjetsystem, sondern gegen die bolschewistische Partei-Diktatur. Für alle Missstände der sozialen Situation wurde die Regierung verantwortlich gemacht; aber die Regierung war durch das System der Räte nicht länger beeinflussbar. Um dieses System demokratisch zu nutzen, musste man das bolschewistische Regierungsmonopol sprengen. Das Verlangen nach ,freien Sowjets‘ bedeutete Sowjets, die frei waren von der bolschewistischen Bevormundung, was praktisch nur heißen konnte: Sowjets ohne Bolschewisten. Es bedeutete politische Freiheit für alle Organisationen und Tendenzen, die an der russischen Revolution teilgenommen hatten, also auch für die Anhänger der bürgerlichen Demokratie, die nicht über den Kapitalismus hinausstrebten. Kurz: die Rebellen forderten die Rückkehr zu den Zuständen, die vor der Machtübernahme der Bolschewiki bestanden hatten, d.h. die Zurücknahme der bolschewistischen Revolution.
Es war unvermeidlich, dass der Kronstadter Aufstand den Beifall aller Feinde des Bolschewismus fand und damit auch den der Reaktion und der Bourgeoisie. Das erlaubte den Bolschewiki, den Aufstand in die Kategorie ,Gegenrevolution‘ einzureihen, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass die Aufständischen der Macht der Partei die der Sowjets entgegensetzten. Die Kronstadter Rebellen hatten nicht die Absicht, die zerfallene bürgerliche Demokratie erneut aufzurichten, sondern versuchten, die Selbstbestimmung der Sowjets zurückzugewinnen. Allerdings blieb objektiv nach wie vor die Alternative bestehen: entweder liberaler Kapitalismus oder autoritärer Staatskapitalismus, da die besonderen Umstände Russlands, der Widerspruch zwischen den bäuerlichen und den proletarischen Interessen und die überwiegende Masse der Landbevölkerung jedes demokratische Regime zum Kapitalismus zu führen drohte.
Der Kronstadter Aufstand überzeugte Lenin jedoch davon, dass die Partei den autoritären Bogen überspannt hatte, und er übernahm einige der wirtschaftlichen Forderungen der Aufständischen, um auf politischem Gebiet zugleich die Zügel noch straffer anzuziehen. Mit der Neuen Ökonomischen Politik begann ein teilweiser Rückzug zur kapitalistischen Marktwirtschaft, um die Bauern auszusöhnen und die Städte besser zu versorgen.“ (Paul Mattick, Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens, in: Anton Pannekoek, Paul Mattick u. a., Marxistischer Antileninismus, a.a.O., S. 190-191.)
Wir müssen also feststellen, dass die Kronstädter Matrosen subjektiv eine sozialrevolutionäre Kraft waren, die aber objektiv keine Chance hatte im Kampf zwischen privat- und staatskapitalistischer Reaktion ihre Vorstellungen einer „dritten Revolution“ zu verwirklichen. So wie sie vorher in ihrem Bündnis mit den Bolschewiki objektiv der staatskapitalistischen Reaktion dienten, was sie subjektiv eindeutig nicht taten, sondern wie alle SozialrevolutionärInnen sich über den wirklichen Charakter des Bolschewismus täuschten, diente objektiv der antibolschewistische Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921 der privatkapitalistischen Reaktion, auch wenn sie subjektiv für die soziale Revolution eintraten.
Aus heutiger Sicht hätte das richtige Verhalten von SozialrevolutionärInnen außerhalb von Kronstadt aber innerhalb Russlands darin bestanden, die bolschewistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes als staatskapitalistische Konterrevolution gegen das Proletariat zu geißeln und bloßzustellen. Dies wäre natürlich nur in konspirativer Organisation gegen die Tscheka möglich gewesen. Gleichzeitig hätten RevolutionärInnen auch die Tagträume einer bevorstehenden „dritten Revolution“ zurückweisen, und die Perspektive einer längerfristigen revolutionären Opposition gegen Privat- und Staatskapitalismus aufzeigen müssen.
Nun, uns sind keine RevolutionärInnen bekannt, die eine solche Position damals in Russland bezogen haben. Wir dürfen auch nicht unsere heutigen Analysen zum Maßstab des Verhaltens damaliger RevolutionärInnen machen, weil die Dialektik des Kronstädter Aufstandes sehr kompliziert war. Außerhalb von Kronstadt traten AnarchistInnen entweder revolutionsromantisch für die „dritte Revolution“, oder „realistische“ Linksbolschewiken für die konterrevolutionäre Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes ein, auch wenn sie den Kronstädtern teilweise inhaltlich recht gaben, weil sie die Unmöglichkeit dieser „dritten Revolution“ erkannten, und die staatskapitalistische Reaktion, die sie noch nicht völlig durchschauten, einer privatkapitalistischen Reaktion (sei diese nun monarchistisch oder demokratisch) vorzogen. Die RevolutionsromantikerInnen dienten objektiv der privatkapitalistischen Reaktion, standen uns aber näher als die Linksbolschewiken, die subjektiv glaubten, die privatkapitalistische Konterrevolution revolutionär zu bekämpfen, aber in Wirklichkeit der staatskapitalistischen Reaktion dabei halfen, mit der privatkapitalistischen und sozialrevolutionären Opposition fertig zu werden. Die Linksbolschewiken handelten im März 1921 objektiv konterrevolutionär, aber nicht wenige von ihnen bekamen einen immer besseren Einblick in den staatskapitalistischen Charakter der Sowjetunion und bezahlten ihre revolutionäre Opposition in den 1930er Jahren mit ihrem Leben. Unser heutiger revolutionärer Realismus war also damals aufgespalten in anarchistische Revolutionsromantik und einen marxistischen konterrevolutionären „Realismus“. Beide waren Ausdruck des Dilemmas, dass in Sowjetrussland im Jahre 1921 eine soziale Revolution objektiv nicht durchführbar war. Aber subjektiv stehen wir den anarchistischen RevolutionsromantikerInnen näher als den marxistischen „RealistInnen“ der staatskapitalistischen Konterrevolution.
Ein bekanntes Beispiel für konterrevolutionären „Realismus“: Der russisch-französische Anarchist Viktor Serge, der während der Revolution sich „kritisch“ den Bolschewiki anschloss und bei der „Kommunistischen“ Internationale arbeitete, versuchte während des Kronstädter Aufstandes zwischen den bolschewistischen Konterrevolution und dem letzten Aufbäumen der subjektiv sozialrevolutionären KronstädterInnen zu vermitteln, trug aber nach dem unvermeidlichen Scheitern dieser Versuche auch die staatkapitalistische Konterrevolution gegen die Kronstädter Matrosen „kritisch“ mit. So schrieb er in seinen Erinnerungen: „Der Gedanke einer Vermittlung bildete sich im Verlauf der Unterhaltungen, die ich jeden Abend mit amerikanischen Anarchisten hatte, die kürzlich angekommen waren: Emma Goldman, Alexander Bergman und dem jungen Sekretär der Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten, Perkus. Ich sprach mit einigen Genossen in der Partei darüber. Sie antworteten mir: ,Das wird nichts helfen, und wir sind durch die Parteidisziplin gebunden, und du auch.‘ Ich erregte mich: ,Man kann aus einer Partei austreten!‘ Sie erwiderten mir kalt und traurig: ,Ein Bolschewik verlässt seine Partei nicht. Und du, wo willst du denn hin? Wir sind trotz allem die einzigen.‘ Die Gruppe der anarchistischen Vermittlung versammelte sich bei meinem Schwiegervater, Alexander Russakow. Ich wohnte dieser Zusammenkunft nicht bei, denn es war beschlossen worden, nur die Anarchisten sollten die Initiative ergreifen, wegen des Einflusses, den sie im Schoße des Kronstädter Sowjets hatten, und nur die amerikanischen Anarchisten sollten gegenüber der Sowjetregierung die Verantwortung übernehmen. Emma Goldman und Alexander Bergman wurden von Sinowjew sehr freundlich empfangen und konnten das Machtwort einer immer noch bedeutenden Fraktion des internationalen Proletariats aussprechen. Ihre Vermittlung scheiterte total. Sinowjew bot ihnen im Gegenteil alle Erleichterungen an, damit sie in einem Sonderwaggon ganz Russland besichtigen könnten. ,Sehen Sie selbst und Sie werden verstehen…‘
Von den russischen ,Vermittlern‘ wurde die Mehrzahl verhaftet, ich ausgenommen. Ich verdanke diese Nachsicht der Sympathie Sinowjews, Sorins und einiger anderer, und auch meiner Eigenschaft als Aktiver der französischen Arbeiterbewegung.
Nach langem Zögern und mit unaussprechlicher Herzensangst erklärten wir, meine kommunistischen Freunde und ich, uns schließlich für die Partei. Hier die Gründe. Kronstadt war im Recht. Kronstadt begann eine neue befreiende Revolution, die der Volksdemokratie. ,Die III. Revolution!‘, sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von ein paar Wochen neu bilden, aber nur dadurch, dass sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr wie 1917 Enthusiasten der jungen Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisation, und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen.
Die Konterrevolution des Volkes übersetzte die Forderung freigewählter Sowjets durch die der ,Sowjets ohne Kommunisten‘. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht der Umstände eine andere, antiproletarische Diktatur. Die Nachrichten aus Stockholm und Tallinn bestätigten, dass die Emigranten dieselben Aussichten in Betracht zogen. Nebenbei gesagt, diese Nachrichten bestärkten die Führer in ihrem Willen, Kronstadt schnell zu erledigen, koste es, was es wolle. Wir überlegten nicht ins Blaue hinein. Wir wussten, dass es allein im europäischen Russland an die fünfzig Herde bäuerlicher Aufstände gab. Im Süden Moskaus rief der rechtssozialrevolutionäre Lehrer Antonow die Abschaffung des Sowjetregimes und die Wiederherstellung der Verfassungsversammlung aus; er verfügte in der Gegend von Tambow über eine vollständig organisierte Armee von mehreren Zehntausenden von Bauern. Er hatte mit den Weißen verhandelt. (Tuchatschewski schlug diese Vendee um die Mitte des Jahres 1921 nieder.) Unter diesen Bedingungen musste die Partei nachgeben und einräumen, dass das wirtschaftliche Regime unerträglich sei. Aber sie konnte nicht die Macht aufgeben. ,Trotz ihrer Fehler und Missbräuche‘, habe ich geschrieben, ,ist die bolschewistische Partei in diesem Augenblick die große organisierte, intelligente und sichere Macht, zu der wir trotz allem Vertrauen haben müssen. Die Revolution hat kein anderes Gerüst, und ist nicht mehr fähig, sich von Grund auf zu erneuern.‘
Das Politbüro beschloss mit Kronstadt zu verhandeln, dann ein Ultimatum zu stellen und als letztes die Festung und die eingefrorenen Panzerschiffe der Flotte anzugreifen. In Wirklichkeit kam es nicht zu Verhandlungen. Ein in aufreizenden Wendungen abgefasstes Ultimatum, von Lenin und Trotzki unterzeichnet, wurde angeschlagen: ,Ergebt Euch oder Ihr werdet zusammengeknallt wie Kaninchen.‘ (…)
Anfang März eröffnete die Rote Armee auf dem Eis den Angriff gegen Kronstadt. Die Artillerie der Schiffe und der Forts feuerte auf die Angreifer. Das Eis brach an verschiedenen Stellen unter der Infanterie ein, die, weiß gekleidet, in mehreren Wellen vorging. Riesige Schollen kenterten und stürzten ihre menschliche Last in die schwarzen Fluten. Das war der Anfang des schlimmsten Brudermordes.
Der X. Parteikongress, der inzwischen in Moskau zusammengetreten war, hob auf Lenins Antrag das Regime der Requisationen auf, das heißt den ,Kriegskommunismus‘, und verkündete die neue Wirtschaftspolitik; alle wirtschaftlichen Forderungen Kronstadts waren erfüllt! Damit wies der Kongress die Opposition zurecht. Die Arbeiteropposition wurde als ,anarcho-syndikalistische Abweichung‘ bezeichnet, die ,mit der Partei unvereinbar sei‘, obgleich sie nicht das geringste mit dem Anarchismus zu tun hatte und nur die Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften verlangte (ein großer Schritt zur Arbeiterdemokratie). Der Kongress machte seine Mitglieder und unter ihnen viele Oppositionelle – gegen Kronstadt mobil! Der ehemalige Kronstädter Matrose Dybenko, von der äußersten Linken, und der Führer der Gruppe der ,Demokratischen Zentralisation‘ (eine linksbolschewistische Oppositionsströmung, Anmerkung von Nelke), Bubnow, Schriftsteller und Soldat, kämpften auf dem Eis gegen Aufständische, denen sie innerlich recht gaben. Tuchatschewski bereitete den letzten Angriff vor. (…)
Es galt, vor dem Tauwetter zu Ende zu kommen. Der abschließende Angriff wurde am 17. März von Tuchatschewski eingeleitet und durch einen kühnen Sieg auf dem Eis beendet. Da die Kronstädter Matrosen keine guten Offiziere hatten, wussten sie ihre Artillerie nicht richtig zu verwerten. (Es gab unter ihnen tatsächlich einen ehemaligen Unteroffizier namens Koslowski, aber er leistete nichts besonderes und hatte keine Autorität.) Ein Teil der Rebellen entkam nach Finnland, andere verteidigten sich von Fort zu Fort und von Straße zu Straße. Sie ließen sich erschießen und riefen: ,Es lebe die Weltrevolution!‘ Andere starben mit dem Ruf: ,Es lebe die kommunistische Internationale!‘ Hunderte von Gefangenen wurden nach Petrograd gebracht und der Tscheka übergeben, die sie, noch Monate später, in kleinen Partien dumm und verbrecherisch erschoss. Diese Besiegten gehörten mit Leib und Seele der Revolution, sie hatten das Leiden und den Willen des russischen Volkes ausgedrückt, die NEP (die neue Wirtschaftspolitik) gab ihnen recht, sie waren schließlich Gefangene des Bürgerkrieges, und die Regierung hatte ihnen seit langem die Amnestie versprochen, wenn sie sich ihr anschlössen. Dserschinski leitete dieses lange Massaker oder ließ es geschehen.
Die Führer des Kronstädter Aufstandes waren noch tags zuvor Unbekannte gewesen, die von der Pike auf gedient hatten. Einer von ihnen, Petritschenko, ist vielleicht noch am Leben: er floh nach Finnland. Ein anderer, Perepelkin, war mit einem meiner Freunde in Haft, den ich in dem alten Gefängnis in der Schpapalernaja-Straße besuchte, das so viele Revolutionäre von einst passiert hatten, unter ihnen auch Lenin und Trotzki. Aus seiner Zelle ließ uns Perpelkin, bevor er für immer verschwand, einen Bericht über die Ereignisse zukommen.
Düsterer 18. März! Die Morgenzeitungen waren mit flammenden Schlagzeilen erschienen, die den proletarischen Jahrestag der Pariser Kommune feierten. Und die Geschütze, die vor Kronstadt donnerten, ließen die Fenster dumpf erbeben. In den Büros des Smolny herrschte ein böses Unbehagen. Man vermied es miteinander zu sprechen, wenn man nicht gerade sehr eng miteinander befreundet war, und was man sich unter intimen Freunden sagte, war bitter. Nie erschien mir die weite Newalandschaft fahler und trostloser.“ (Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, Edition Nautilus, Hamburg 1990, S. 147-151.)
Was Victor Serge erlebte, war der endgültige Übergang des Bolschewismus von einer kleinbürgerlich-radikalen zu einer staatskapitalistisch-reaktionären Strömung. Serge selbst schloss sich ab 1923 der trotzkistischen Linksopposition gegen den „Stalinismus“ an, wurde dafür verbannt, konnte aber durch internationale Solidarität Russland verlassen und dadurch der staatlichen Vernichtung der revolutionären Kräfte entgehen.
Durch Victor Serges Erinnerungen wird die opportunistische Inkonsequenz des Linksbolschewismus deutlich. Gefangen in einer mystischen Parteireligion folgten nicht wenige Linksbolschewiken während des Kronstädter Aufstandes Lenin und Trotzki in die staatskapitalistische Konterrevolution. Dadurch stärkten sie jene Macht, der schließlich auch sie zum Opfer fielen. Serge idealisierte diese linksbolschewistische Opposition total. Die „Arbeiteropposition“ war nichts anderes als die Opposition bolschewistischer GewerkschaftsbürokratInnen, welche gegen die vollständige Unterordnung der Gewerkschaften unter die bolschewistische Partei ankämpfte. Die proletarische Basis dieser Opposition war nichts anderes als Kanonenfutter im innerbürokratischen Machtkampf. Gewerkschaftliche Kontrolle über die Produktionsmittel mag vielleicht „ein großer Schritt zur Arbeiterdemokratie“ sein, aber mit proletarisch-revolutionärer Selbstorganisation die zur klassen- und staatenlosen Gesellschaft strebt, hat sie nichts zu tun. Die ArbeiterInnendemokratie und ihre Organe, Parteien und Gewerkschaften, sind ein Hauptfeind der proletarischen und klassenlosen Selbstorganisation. Doch zu dieser Erkenntnis konnte sich Serge nicht durchringen. So blieb er ein kleinbürgerlicher Radikaler mit starken staatskapitalistisch-reaktionären Tendenzen.
Natürlich hatte Serge darin recht, die Möglichkeit einer drittem Revolution im rückständigen, bäuerlichen und durch den BürgerInnenkrieg völlig zerstörten und zerrüttelten Russland abzustreiten. Die AnarchistInnen, die davon träumten waren die Don Quichotes der Revolution, hoffnungslose Romantiker. Aber aus sozialrevolutionärer Sicht ist ein Revolutionsromantiker ein Genosse, während ein „kritischer, aber dennoch realistischer“ Anhänger der Konterrevolution auf der anderen Seite der Barrikade steht! Auch muss gesagt werden, dass jene AnarchistInnen, die für eine „dritte Revolution“ eintraten, doch noch realistischer waren als jene AnarchistInnen und Serge, die versuchten zwischen den Kronstädter Matrosen und dem staatskapitalistischen Regime zu vermitteln. Zwischen Revolution und Konterrevolution gibt es nichts zu vermitteln!
Dass AnarchistInnen in der Regel keine Kritik an den kleinbürgerlich-ökonomischen Forderungen der Kronstädter Matrosen äußern, liegt am ebenfalls kleinbürgerlichen Charakter des Anarchismus. Die anarchistische Idealisierung der kleinbäuerlichen Machno-Bewegung passt da ganz gut in das Bild. Der anarchistische Historiker und ehemalige Mitkämpfer der Machno-Bewegung, Arschinoff, musste zugeben, dass diese Bewegung zwischen 1917 und 1921 keine gesellschaftlichen Veränderungen zuwege brachte. Er gab aber den ständigen Kampf gegen ausländische Intervention, Weiße und Bolschewiki die Schuld daran. Unserer Meinung nach lag dies aber am kleinbäuerlichen Charakter dieser Bewegung. KleinbäuerInnen sind allein auf sich gestellt nicht in der Lage die Warenproduktion zu überwinden, sie neigen zur kleinbürgerlich-individuellen oder kleinbürgerlich-kollektiven Warenproduktion am Rande der kapitalistischen Warenproduktion.
Dass Serge sich übrigens auch positiv auf die kleinbäuerlich-ökonomischen Forderungen der Kronstädter Matrosen bezieht, zeigt dass seine ganz private Ideologieproduktion eine reaktionäre Synthese aus Anarchismus und Marxismus darstellte. Bei seinem Vermittlungsversuch zwischen Revolution und Konterrevolution hegte er die sentimentalen Vorurteile des Anarchismus, dass es vordergründig auf Ideen, Gefühle und Moral ankommt, und nicht auf Interessen und Bedürfnisse, die letztendlich die Ideen, Gefühle und Moral der handelnden Subjekte bestimmen. Und da wo die Interessen und Bedürfnisse von subjektiv revolutionären Matrosen und denen von objektiv konterrevolutionären staatskapitalistischen BürokratInnen gegenüberstanden, musste dieser Konflikt mit aller tödlichen Konsequenz ausgefochten werden. Das ist die grausame Dialektik des Kronstädter Aufstandes. Beide Seiten kämpften aus objektiv-subjektiver Notwendigkeit. Die Kronstädter Matrosen kämpften für die proletarische Selbstorganisation, die staatskapitalistische Bürokratie für deren endgültige Zerschlagung. Die Kronstädter Matrosen waren weder objektiv noch subjektiv in der Lage den Übergang von der proletarischen zur klassenlosen Selbstorganisation zu erkämpfen, denn dass hätte die Zerschlagung des bolschewistischen Staates und die Aufhebung der Warenproduktion erfordert. Der einen Notwendigkeit der sozialen Revolution, der Zerschlagung des bolschewistischen Staatsapparates konnten sie auf Grund des Kräfteverhältnisses objektiv nicht entsprechen, und die zweite Notwendigkeit, die Überwindung der Warenproduktion, war weder objektiv möglich, noch stellten sie es sich subjektiv zum Ziel. Die Notwendigkeiten einer siegreichen Konterrevolution verlangten von den Bolschewiki die Zerschlagung der proletarischen Selbstorganisation und die vorübergehende Förderung kleinbürgerlich-privatkapitalistische Interessen, um die bäuerliche Mehrheit zu beruhigen. Deshalb auf der einen Seite die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes und erbarmungslose Vernichtung auch der schon geschlagenen Matrosen, und auf der anderen Seite die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) als vorübergehendes Nachgeben gegenüber den bäuerlichen und anderen kleinbürgerlichen Schichten. Die objektiven Bedingungen sorgten dafür, dass sich die Notwendigkeiten der staatskapitalistischen Konterrevolution gegen den proletarischen Klassenkampf durchsetzten
Serge begriff die innere Notwendigkeit und die grausame Dialektik des Kronstädter Aufstandes nicht, und fiel in typisch anarchistische Sentimentalität, wo eine materialistische Analyse notwendig gewesen wäre. Er leugnete die revolutionäre Notwendigkeit des Sturzes des bolschewistischen Regimes, und benutzte die kleinbürgerlich-ökonomischen Vorstellungen der Kronstädter Matrosen, die ja von der bolschewistischen Bürokratie durch die NEP quasi verwirklicht wurden, um sie moralisch zu rechtfertigen, nachdem er sich zuvor „kritisch“ auf die Seite ihrer Mörder gestellt hatte. Hier verschmolz typische anarchistische Sentimentalität mit dem marxistischen Pseudo-„Realismus“, Hinweise auf „objektive Bedingungen“ für die Rechtfertigung der eigenen konterrevolutionären Subjektivität zu benutzen.
Die Kronstädter Matrosen kämpften für ihre Interessen und Bedürfnisse unter objektiven Bedingungen, in denen sie nicht siegen konnten. Sie verkörperten eine subjektive Voraussetzung der sozialen Revolution, nämlich jene, die für ArbeiterInnen darin besteht, kompromisslos für die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kämpfen, auch wenn die objektiven Bedingungen noch so schlecht sind. Denn wer unter schlechten objektiven Bedingungen nicht kämpft, wird auch unter besseren objektiven Bedingungen nicht siegen. Die Matrosen von Kronstadt fielen als heroisches Vorbild für alle sozialrevolutionären ArbeiterInnen und als Zerstörer der revolutionären Phrasen des Parteimarxismus, der bei der Niederschlagung ihres Aufstandes gezwungen war seine konterrevolutionäre Fratze zu zeigen. Überlieferte marxistisch-staatskapitalistische Ideologie und die irrationale Parteidisziplin hinderten viele damalige Linksbolschewiken daran, auf der richtigen Seite der Barrikade zu stehen. Nach dem Kronstädter Aufstand ist die Weiterexistenz eines marxistischen Kommunismus eine Unmöglichkeit geworden. Der Kommunismus muss seine marxistische Vergangenheit abstreifen, denn die staatskapitalistischen Tendenzen des Marxismus schlugen im März 1921 sichtbar in Antikommunismus um, der sich selbst und andere mit kommunistischen Phrasen betrog und noch immer betrügt.
Während der sowjetische Partei-„Kommunismus“ seine Dekadenz als sozialrevolutionäre Theoriebildung im März 1921 offensichtlich zeigte, war er auch als Ideologie der staatskapitalistischen Sozialreaktion ab den 1970er Jahren überlebt. In dieser Zeit begann nämlich die Arbeitsproduktivität im sowjetischen Staatskapitalismus zu sinken. Die ökonomische Dekadenz durchdrang auch die Ideologieproduktion. Gorbatschows Perestroika ging in die privatkapitalistische Lösung der staatskapitalistischen Krise über. Doch die Privatisierung des Kapitals in den nachsowjetischen Nationalstaaten brachte dem dortigen Proletariat kein Friede, Freude, Eierkuchen. Nur die soziale Revolution führt aus dem Elend der kapitalistischen Zivilisationsbarberei heraus. Ein nachmarxistischer und nachanarchistischer Kommunismus als Theoriegebäude dieser sozialen Revolution war und ist notwendig. Der blutgetränkte Boden von Kronstadt war sein Geburtsort.

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